Imperialismus & marxistische Theorie, Teil I (M 7)

In bewußtem Gegensatz zu dem beliebten österreichischen Motto I was zwoa net, wo i hinfahr, dafür bin i aba schnella durt beschäftigt sich die vorliegende Nummer von Marxismus erneut mit einem sehr grundsätzlichen Thema – mit der marxistischen Imperialismustheorie, genauer gesagt: mit den Konzepten, die in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von den marxistischen "Klassikern" entworfen wurden, um das Wesen und die Bewegungsgesetze des Kapitalismus in seiner imperialistischen Epoche theoretisch zu erklären

Nur auf der Grundlage einer richtigen Einschätzung der gegenwärtigen ökonomischen und politischen Situation kann es der Arbeiterbewegung im allgemeinen und den Revolutionären im besonderen gelingen, eine realistische Kampfperspektive zu entwickeln. Falsche oder fehlende Einschätzungen der Widersprüche, der Kräfteverhältnisse und der Entwicklungsdynamiken der heutigen Gesellschaft führen nur allzu leicht zu Enttäuschung und Demoralisierung (angesichts unerfüllter Hoffnungen) oder zu politischer Desorientierung und Hilflosigkeit (angesichts unerwarteter Ereignisse). Die theoretische Analyse der möglichen und wahrscheinlichen Entwicklungsperspektiven ist ein wichtiges Mittel, um diese Erscheinungen zu verhindern.

In Marxismus Nr. 5 (Kapitalismus in Österreich – Von seinen Anfängen bis heute) haben wir gesehen, wie sehr die Entwicklung der österreichischen Klassengesellschaft von internationalen Faktoren abhängig war und ist: von der internationalen kapitalistischen Konjunkturentwicklung, von der imperialistischen Blockbildung etc. Gleiches gilt auch für die Zukunft: Von der Entwicklung des imperialistischen Weltsystems, von seiner Stabilität, von seinen Widersprüchen und seiner Krisenhaftigkeit hängen nicht nur Börsenkurse und Unternehmensbilanzen ab, sondern auch das Ausmaß der Zuspitzung von sozialen Konflikten, die Kampfbedingungen der Arbeiterbewegung, ja letztlich die Lebenssituation jedes Individuums – und zwar nicht nur in Österreich, sondern international.

Wird sich der Kapitalismus – trotz verschiedener nationaler und sozialer Auseinandersetzungen – insgesamt, als System, international in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten weiter relativ stabil entwickeln? Oder wird dieses System – dessen Produktivkräfte in der Lage wären, der gesamten Menschheit ein anständiges Lebensniveau zu bieten – aufgrund seiner inneren Widersprüche rasant auf eine tiefe ökonomische Krise, auf unbarmherzige soziale Konflikte auch in den Metropolen (inklusive stärkere faschistische Tendenzen), letztlich auf imperialistische Blockkonfrontationen und Krieg zusteuern? Das sind entscheidende Fragen für die revolutionäre Linke, für die Arbeiterbewegung, für die Zukunft jedes einzelnen. Deshalb ist die Imperialismus-Analyse, d.h. die Analyse der Substanz des imperialistischen Systems, seiner Widersprüche und Perspektiven heute eine wichtige – wenn nicht die wichtigste – theoretische Aufgabe für Marxisten.

Deshalb hat sich die Arbeitsgruppe Marxismus (AGM) die Imperialismus-Analyse als wesentlichsten Arbeitsschwerpunkt gewählt. Eine solche Analyse schüttelt sich aber freilich nicht aus dem Ärmel. Um der Versuchung zu widerstehen, sich unmittelbar ins aktuelle Material zu stürzen, und um ein (aus einer solchen Vorgangsweise notwendigerweise resultierendes) empiristisches und eklektisches Ergebnis zu vermeiden, ist es dabei zu allererst nötig, sich die entsprechende theoretische Methode anzueignen, d.h. sich eingehend und fundiert mit der Marxschen ökonomischen Theorie (inklusive Kritik und Gegenkritik) vertraut zu machen – eine Aufgabe, die für unsere überwiegend aus jungen Leuten bestehende Gruppe trotz erheblicher Anstrengungen in den letzten 1 _ Jahren keineswegs abgeschlossen ist. Weiters gilt es, um einen theoretischen Hüftschuß ins Blaue zu verhindern, die bisherige marxistische und sonstige kritische Theoriebildung zum Imperialismus zu studieren, zu verstehen und sich – soweit in dieser Arbeitsphase möglich – ihr gegenüber zu positionieren. Dabei ist es sinnvoll, diese Theoriebildung immer wieder mit den Marxschen Grundlagen in Beziehung zu setzen und zu vergleichen.

Als erstes Ergebnis unserer Beschäftigung mit marxistischer Ökonomie und Imperialismustheorie bringen wir jedenfalls nun diese Nummer zu den "Klassikern" heraus. Anders als die Stalinisten und ihre zahlreichen Trittbrettfahrer in der Linken, die sich lange Zeit durch unkritisches, bibelmäßiges Nachbeten von irgendwelchen Marx- oder Leninzitaten hervorgetan haben und die zu großen Teilen seit 1989/90 unter dem Eindruck der bürgerlichen ideologischen Offensive genau in die andere Richtung abschwirren, haben wir nicht vor das Kind (die positiven Anknüpfungspunkte der marxistischen Theorie) mit dem Bade (dem ungustiösen stalinistischen Personenkult) auszuschütten. Entscheidend ist auch bei der marxistischen Imperialismustheorie, die Konzeptionen der "Klassiker" nicht als verehrungswürdige Dogmen aufzufassen, sondern sie in ihrer Entwicklung, mit ihren Widersprüchen zu begreifen, ihre Schwächen und historischen Bedingtheiten zu verstehen ohne den Blick für ihre Errungenschaften zu verlieren.

Wir orientieren uns bei dieser Nummer von Marxismus außer an den Werken der "Klassiker" (vgl. die Quellenangaben in den jeweiligen Teilen) teilweise auch an den Arbeiten von Roman Rosdolsky1 und Ernst Mandel2, darüberhinaus an Texten von Quentin Rudland3 und Keith Hassel4, wobei sich die beiden letzteren ebenfalls – passagenweise sehr eng – auf Rosdolsky und Mandel (und stellenweise auch auf Paul M. Sweezy5 ) stützen. Der Kernpunkt, in dem wir mit Rosdolsky, Mandel, Rudland und Hassel übereinstimmen, ist die entscheidende Bedeutung, die wir dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate für die marxistische Krisen- und Imperialismustheorie zumessen. Daraus ergibt sich auch eine gemeinsame Kritik an sämtlichen "Klassikern", die (in verschiedener Hinsicht und mit unterschiedlicher Argumentation) dieses ökonomische Bewegungsgesetz unterbewerteten – im Gegensatz zu Marx, der über den tendenziellen Fall der Profitrate folgendes formulierte:

"Es ist dies in jeder Beziehung das wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie und das wesentlichste, um die schwierigsten Verhältnisse zu verstehen. Es ist vom historischen Standpunkt aus das wichtigste Gesetz. Es ist ein Gesetz, das trotz seiner Einfachheit bisher nie begriffen und noch weniger bewußt ausgesprochen worden ist."6

Freilich löst die vorliegende, sich mit den "Klassikern" beschäftigende Arbeit nicht die Aufgabe, die gegenwärtige Situation des Imperialismus zu analysieren. Aber sie ist ein Anfang, bei dem es vor allem um ein richtiges methodisches, theoretisches Verständnis geht. Ein Schritt muß dem anderen folgen. Vor uns liegen die Aufarbeitung der Diskussion in der 3. und 4. Internationale, die Beschäftigung mit der marxistischen Theorieentwicklung zwischen 1945 und heute, die Auseinandersetzung mit den Dependenztheoretikern und schließlich die Analyse der gegenwärtigen Situation. In einer Dialektik mit diesem Prozeß wird es immer wieder notwendig sein, das marxistische ökonomische Verständnis zu vertiefen und zu verbessern. Gleichzeitig kann es im Laufe dieses Diskussionsprozesses durchaus möglich sein, daß wir uns in dem einen oder anderen Punkt korrigieren müssen.

Die vorliegende Nr.7 von Marxismus stellt in diesem Sinn nicht mehr und nicht weniger als den gegenwärtigen Diskussionsstand der AGM dar. Trotzdem beziehungsweise deswegen halten wir es für sinnvoll und nützlich, unsere bisher erarbeiteten Positionen in einer möglichst verständlichen Weise einer breiteren Öffentlichkeit zukommen zu lassen. In welchen Zeitspannen unser weiterer Diskussionsprozeß weitere Publikationen nach sich ziehen wird, läßt sich zur Zeit noch nicht definitiv sagen .

Die AGM hat sich in den letzten Monaten – neben der Beschäftigung mit verschiedenen theoretischen Fragen – auch einigen anderen Dingen gewidmet. Einerseits haben wir im November 1995 mit Marxismus Nr.6 (auch um den Preis einer leichten Verzögerung dieser Nummer zum Imperialismus) unsere erste Flugschrift herausgebracht, mit der wir versucht haben, zur vorgezogenen Nationalratswahl im Dezember und zur innenpolitischen Situation insgesamt eine prägnante marxistische Propaganda etwas breiter unters Volk zu bringen. Einige tausend doppelseitige A3-Flugschriften wurden auf der Universität Wien, auf der Technischen Universität, in von Jugendlichen besuchten Lokalen und bei Wahlveranstaltungen der SPÖ abgesetzt (Restexemplare sind über unsere Kontaktadresse zu erhalten – bitte Briefmarke beilegen). Die überwiegend interessierte und positive Ressonanz läßt uns diese Aktion als Erfolg bilanzieren. Auch in Zukunft werden wir in brisanten politischen Situationen in ähnlicher Weise intervenieren.

Darüberhinaus haben wir in den letzten Monaten zusätzlich zu unseren Hauptarbeitskreisen eine Reihe von außertourlichen Seminaren veranstaltet: zum 2. Weltkrieg (im Mai), zum 100. Todestag von Friedrich Engels (im Juli), zu den Hintergründen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien (im November), zur Geschichte des österreichischen Trotzkismus (im Dezember). Die letzten beiden wurden gemeinsam mit anderen trotzkistischen Gruppen abgehalten. Dazu kam ein Seminar Einführung in den Marxismus (November 1995 bis Jänner 1996). Auch in diese Richtung haben wir vor, weiter tätig zu sein, denn wir sehen unsere Aufgabe nicht nur in der Aneignung und Weiterentwicklung von marxistischer Theorie, sondern auch in ihrer Verbreitung und Propagierung. Außerdem streben wir eine verstärkte Kooperation unter den internationalistischen Teilen der Arbeiterbewegung an. Wer also Interesse an unseren Seminaren oder an unseren Publikationen hat, kann sich mit einfacher Zuschrift an die AGM wenden. Viel Spaß beim Lesen wünscht auch diesmal

 

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