Wien versus Schwarz-Blau? – Oder: 100 Jahre Rotes Wien

Das sozialdemokratisch regierte Wien positioniert sich gerade als Gegenmodell zur schwarz-blauen Bundesregierung. Was ist an dieser Inszenierung dran? Und wie steht es um das Vermächtnis „100 Jahre Rotes Wien“? Einige Überlegungen zu Rechtsruck, Essensverboten, der Rolle der SPÖ und linken Perspektiven.

Der neue Wiener Bürgermeister Michael Ludwig gibt sich gerade Mühe die von der „Wienpartei“ SPÖ regierte Bundeshauptstadt als Gegenmodell zum Kurs der Bundesregierung zu inszenieren. Ein Beispiel dafür ist die aktuelle Kritik an der Reformierung der Mindestsicherung durch Schwarz-Blau.

Passend dazu nimmt Michael Ludwig in einer aktuellen Werbekampagne ganz konkret auf „100 Jahre Rotes Wien“ Bezug. Unter einem Bild von Wiens ehemaligem Bürgermeister Karl Seitz (1923-1934) ist zu lesen: „Eine neue Zeit soll beginnen. Eine Zeit der Arbeit und des Friedens.“ Daneben ein Foto von Michael Ludwig mit dem Text: „Für den sozialen Zusammenhalt. Jetzt und in Zukunft!“ In diesem Werbesujet konzentrieren sich etliche Aspekte der widersprüchlichen Rolle und Haltung der SPÖ.

„Zusammenhalt“ statt Anti-Rassismus

Schon seit einiger Zeit kritisiert die SPÖ den Rassismus von ÖVP und FPÖ nicht mehr (direkt). Mit Formulierungen wie „Für den sozialen Zusammenhalt“ will sie eine klare Positionierung in der Migrationsfrage umschiffen. Für potentielle WählerInnen aus der urbanen, liberalen Mittelklasse lässt sich das wohlwollend durchaus als ein Bekenntnis zu einem „multikulturellen“ Wien interpretieren. Für WählerInnen, die man von der FPÖ zurückgewinnen will, schafft man es so, eine Kritik am Rassismus zu vermeiden und die Bundesregierung gleichzeitig für ihre Politik gegen die „sozial Schwachen“ zu kritisieren.

Die SPÖ verzichtet aber nicht nur auf eine offene Kritik am zunehmenden Rassismus, sie ist vielmehr selbst eine treibende Kraft hinter dieser Entwicklung. Ein aktueller und weiterer trauriger Höhepunkt war die Kritik an Innenminister Kickl im Rahmen der österreichischen Ratspräsidentschaft. Die SPÖ kritisierte, dass Kickl auf EU-Ebene die rasche personelle Aufstockung der EU-Grenzschutzagentur Frontex nicht zustande gebracht hätte.

Die SPÖ passt sich hier einem angeblich vorherrschenden Diskurs an und stellt sich damit selbst vor vollendete Tatsachen. Nach dem Motto: Wir haben es nicht geschafft den Verlust von WählerInnen an die FPÖ zu stoppen. Um die zurückzugewinnen und noch Schlimmeres zu verhindern, dürfen wir uns in der Migrationsfrage nicht angreifbar machen – und passen uns daher einfach an.

Doch damit besiegelt die SPÖ gerade diese Rechtsentwicklung, weil der herrschende Diskurs gar nicht so rassistisch wäre, wenn die SPÖ dem etwas entgegenzusetzen hätte, anstatt mit zu machen. Sie trägt so auch zu einer Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums bei. Mögen sich auch manche in der SPÖ nur zähneknirschend mit dieser Anpassung abfinden, ist sie doch mehr als hausgemacht. Darin zeigt sich auch, dass die SPÖ keine eigenständige Perspektive anzubieten hat. Diese würde bedeuten, dem zunehmenden Rassismus eine solidarische und klassenkämpferische Praxis entgegenzustellen. Von einer bürgerlichen Wahlpartei auf kapitalistischer Grundlage mit Verbindungen zu einem rasant an Stärke verlierenden Gewerkschaftsapparat kann man das freilich nicht erwarten.

Autoritäre Verbotskultur

Der ideologische Rechtsruck in Österreich beschränkt sich aber nicht nur auf einen verstärkten Rassismus, sondern zeigt sich auch in einer Zunahme autoritärer Problem„lösungen“ in Manier einer klassischen „Recht und Ordnung“-Politik. Hier sprintet der neue Wiener Bürgermeister Ludwig mit vorauseilendem Gehorsam voran und versucht sogar, FPÖ-Innenminister Kickl rechts zu überholen. Die Weisung des Innenministeriums, die Einführung von Waffenverboten an öffentlichen Brennpunkten zu überprüfen, will Ludwig mit einem Waffenverbot für ganz Wien übererfüllen. So bestätigt die Wiener SPÖ den rassistischen Angstdiskurs, dass das angebliche Hauptproblem heute „Kriminelle“ – sprich „Ausländer“ – sind. Um den öffentlichen Raum für die anständigen BürgerInnen wieder sicher zu machen, bräuchte es Verbote, die die Polizei durchsetzt.

Die gleiche autoritäre Verbotskultur zeigt sich im gerade beschlossenen Essensverbot in allen Wiener U-Bahnlinien. Zu Beginn wurde nur der Verzehr von „geruchsintensiven“ Speisen in der angeblichen Problemlinie U6 verboten, und die Maßnahme sollten evaluiert werden. Kurz darauf – welch Überraschung – ist das Essen in allen U-Bahnlinien verboten. „Evaluieren“ heißt in seiner neuen Bedeutung, dass es von Beginn an längst fertige Pläne gibt, die jedoch am Anfang verheimlicht werden. Man startet zuerst einen kleineren Vorstoß und wenn dieser – ohne zu großen Widerstand – verdaut ist, kann der eigentliche, größere Plan umgesetzt werden.

Spalten bis die Polizei kommt

Dieses Schema ist mehr als exemplarisch und bekannt. Im neoliberalen Kapitalismus ist das die in wohlklingende Worte verpackte Strategie für massive Angriffe und Kürzungen, sowohl von Regierungen als auch in Unternehmen. Zudem zeigt es wie mit Hilfe von Rassismus Maßnahmen durchgesetzt werden, die dann sehr schnell eine viel größere Gruppe treffen. Zunächst wird eine Gruppe (oder in diesem Fall: U-Bahnlinie) herausgepickt, die ein leichtes und verwundbares Ziel darstellt – und kurz darauf werden die Angriffe verallgemeinert. Bundeskanzler Kurz hetzt gegen BezieherInnen der Mindestsicherung in Wien, die in der Früh angeblich nicht aufstehen wollen – um sich Unterstützung für einen letztlich viel breiteren Angriff zu holen. Und so wie das Essensverbot in der U6 die Vorbereitung für breitere Maßnahmen war, wird auch das Alkoholverbot am Praterstern weitere solcher Verbote nach sich ziehen.

Dass diese Art von Politik nicht „für den sozialen Zusammenhalt“ sorgt, sondern stattdessen Menschen gegeneinander aufstachelt, ist mehr als offensichtlich. Schuld sollen nicht PolitikerInnen und Reiche sein, sondern der (Sitz)nachbar, der sich nicht an die Regeln hält. Auch hier richtet sich die SPÖ nach einer angeblichen öffentlichen Meinung, die ein allgemeines Essensverbot in U-Bahnen befürwortet. Wie in einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden hier genau jene Ängste und Spaltungen heraufbeschworen, die erst den Hintergrund für eine Zustimmung zu autoritären Maßnahmen schaffen.

„Die gute, alte Zeit“

Eine weitere Parallele zum autoritär-rechten Kurs von Schwarz-Blau ist der Rückbezug auf „früher, als alles besser war.“ Die SPÖ steht dabei für ihre eigene Version und besinnt sich auf die „gute, alte Zeit“ der Sozialpartnerschaft, wo die Welt noch in Ordnung und der soziale Zusammenhalt noch gegeben war. An dieser Stelle muss es heißen: „Nein, die Welt war auch unter SPÖ-geführten Regierungen in den letzten Jahrzehnten nicht in Ordnung.“ Und es war gerade diese Politik, die den Boden für die heutige autoritär-rassistische Wende aufbereitet hat.

Die SPÖ lehnt sich hier am rechten/rechtspopulistischen Besinnen auf eine angeblich heile Vergangenheit an und ändert den Inhalt geringfügig. Was wir tatsächlich brauchen ist eine nach vorne gewandte Perspektive: eine sozialistische Gesellschaft, die den Reichtum unserer Gesellschaft für ein gutes Leben für Alle einsetzt.

Dass Manche die SPÖ dennoch weiterhin als vermeintlich „kleineres Übel“ unterstützen, zeigt das wahre Ausmaß und die tiefe Problematik des Rechtsrucks: die akzeptierte Alternative zu FPÖ (und ÖVP) ist eine in manchen Punkten etwas abgeschwächtere Version derselben Politik und Entwicklungsrichtung.

Rotes Wien 2.0?

Wie verbindet sich das alles mit der Bezugnahme auf das Rote Wien und Karl Seitz? Das am Anfang des Textes erwähnte Plakat verschweigt, warum Karl Seitz nur bis 1934 Bürgermeister war: wegen der Machtübernahme des Austrofaschismus nach der Niederlage der ArbeiterInnenbewegung in den Februarkämpfen 1934. Diese historische Niederlage war der Endpunkt einer langen Entwicklung des ständigen Zurückweichens und Suchens von Kompromissen durch die Sozialdemokratie.

Auch damals hat sich das Rote Wien als Gegenmodell zum autoritär-faschistischen Kurs der Christlich-Sozialen positioniert. Aber auch schon damals gab es keine offensive Strategie, mit dieser Bedrohung umzugehen. Die rechten überschritten ständig rote Linien. Das Ergebnis waren neue, aufgeweichte rote Linien. Diese wurden wieder überschritten und so ging die Entwicklung kontinuierlich in eine autoritäre und rechte Richtung.

So ist auch die Situation heute die Fortsetzung einer Entwicklung, die schon seit über 100 Jahren andauert: die SPÖ versucht, vermittelt über ihre Verbindung zu Basis und Gewerkschaften, dem Kapitalismus ein etwas sozialeres Antlitz zu verpassen – ohne diesem und seiner Entwicklung etwas entgegenzustellen. In der Zwischenkriegszeit bedeutete dies Schritt für Schritt vor dem Erstarken des austrofaschistischen Regimes zurückzuweichen. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auf Grundlage eines sozialpartnerschaftlichen Kompromisses der Wiederaufbau des österreichischen Kapitalismus betrieben. Seit den 1980ern war die SPÖ zentrale Mitgestalterin des neoliberalen Umbaus. Und heute ist sie ein Teil der rassistischen und autoritären Wende. Eines muss man der SPÖ lassen: sie versteht es, sich den sich verändernden Erfordernissen des Kapitalismus anzupassen.

Selbstorganisiert und klassenkämpferisch

Doch ein genauerer Blick auf das Rote Wien kann uns helfen, Perspektiven für die Linke heute zu finden. Der dominanten sozialdemokratischen Geschichtsschreibung zufolge haben wir das Rote Wien und die sozialen Errungenschaften (auch jene nach dem Zweiten Weltkrieg) „der Partei“ zu verdanken. Die SPÖ lässt dabei seit jeher gern und absichtlich unter den Tisch fallen, dass es viel mehr die Stärke der kämpfenden und organisierten ArbeiterInnenklasse selbst war, die überhaupt jenes Kräfteverhältnis hergestellt hat, um soziale Reformen durchzusetzen.

Vor der Aufgabe, dieses Kräfteverhältnis zu Gunsten der ArbeiterInnenklasse zu verschieben, stehen wir auch heute. Dem autoritär-rassistischen Kurs und den Angriffen auf die Lohnabhängigen entgegenzutreten bedeutet nicht nur, gegen die schwarz-blaue Bundesregierung zu sein, sondern schließt auch eine Opposition gegen den Kurs der SPÖ-Führung ein.