Die anti-muslimische Hetze und der Niedergang des Liberalismus

Anti-muslimischer Rassismus hat in den letzten Wochen einen neuen traurigen Höhepunkt erreicht. In Ablehnung von Islamismus und Jihad holen auch viele Liberale zum Rundumschlag gegen „die Muslime“ oder „den Islam“ aus. Eine Polemik.

Ende der 1990er Jahre holten sich viele Jugendliche ihren Kick auf der damals überaus populären Website rotten.com, die hunderte explizite Fotos von Amputationen, Unfällen oder Exkrementen beinhaltete. Heute reicht ein Blick in die Online-Foren diverser österreichischer Tageszeitungen, um sich die tägliche Portion menschlicher Widerwärtigkeiten zuzuführen.

Anti-muslimische Hetze

Ähnlich wie nach den Anschlägen vom 11. September 2001 werden wir derzeit mit einer neuen Welle an Islamfeindlichkeit und anti-muslimischem Rassismus überrollt. Ihren Ursprung hat diese jedoch nicht nur an den Stammtischen und in den Online-Foren, sondern auch in den Chefredaktionen des Landes. Teilweise scheint es wie ein Wettbewerb um die dümmste, undifferenzierteste und hetzerischste Sichtweise zum Thema. So schreibt etwa Martina Salomon, stellvertretende Chefredakteurin des KURIER , über „falsche Toleranz“ und schwadroniert von „weltweit erschreckend großen Teilen der Muslime [die sich] ins Mittelalter zurückentwickeln“ und „tausenden aus eher rückständigen Herkunftsregionen, die auf Zuruf für die Straße mobilisierbar“ sind, selbstverständlich nicht ohne vorher darauf hinzuweisen, dass 2051 jede fünfte Person in Österreich muslimischen Glaubens sein wird. Jene Martina Salomon übrigens, die vor einiger Zeit ebenfalls im KURIER von angeblichen „no-go-Zonen“ in Wien-Favoriten zu berichten wusste.

Hans Rauscher hält sich im Standard nicht lange mit Erklärungsmustern wie Diskriminierung, Ausgrenzung oder Perspektivlosigkeit auf, sondern zitiert lieber den niederländischen Rassisten Leon de Winter, der den europäischen Jihadismus mit der Triebhaftigkeit muslimischer Männer erklärt. Und Profil -Chefredakteur Christian Rainer findet die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus durch die „selbst ernannten Beschwichtiger, die Versteher, die Vermittler“ schlicht „für die Würste“. Wie auch bei Putin wird der Begriff des „Verstehers“ hier als Beleidigung verwendet. Ein (schlechter) Treppenwitz der Geschichte: Jene, die vorgeben, die Werte der Aufklärung gegen das Mittelalter zu verteidigen, polemisieren gegen jene, die sich die Mühe machen, zu erklären, zu verstehen, zu differenzieren, anstatt das Ressentiment zur Richtschnur ihres Handelns zu erheben. Sieht so Österreichs liberale Mitte aus?

Den Vogel hat eindeutig „Bild am Sonntag “-Vizechefredakteur Nikolaus Fest abgeschossen: „Ich bin ein religionsfreundlicher Atheist. Ich glaube an keinen Gott, aber Christentum, Judentum oder Buddhismus stören mich auch nicht“ schreibt er. Und weiter: „Nur der Islam stört mich immer mehr. Mich stört die weit überproportionale Kriminalität von Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund. Mich stört die totschlagbereite Verachtung des Islam für Frauen und Homosexuelle.“ Seine 784 Zeichen lange rassistische Suada schließt mit den Worten: „Ist Religion ein Integrationshindernis? Mein Eindruck: nicht immer. Aber beim Islam wohl ja. Das sollte man bei Asyl und Zuwanderung ausdrücklich berücksichtigen! Ich brauche keinen importierten Rassismus, und wofür der Islam sonst noch steht, brauche ich auch nicht.“

Zwar hat sich Bild-Chefredakteur Kai Diekmann umgehend distanziert, doch wenn wir ehrlich sind, ähnliches findet sich in schöneren Worten Woche für Woche in den Leitartikeln und Kommentaren nahezu aller deutschsprachiger „Qualitätsmedien“. Getarnt als Religionskritik oder Verteidigung der „freien Gesellschaft“ wird hier mit einer derartigen Abgehobenheit, Ignoranz und Pauschalisierung über Muslime hergezogen, die ihresgleichen sucht. Stellen wir uns doch einmal vor, statt „Muslime“ würde in diesen Texten eine andere Bevölkerungsgruppe eingesetzt werden. Würde der Titel „Sind Juden wirklich unfähig zur Selbstkritik?“ jemals im Standard veröffentlicht werden? Zu recht nicht. Aber der Kommentar „Sind Muslime wirklich unfähig zur Selbstkritik“ erschien eben dort und erhielt einiges an positiver Zustimmung von den Leser_innen. Genauso würde wohl auch niemand, der_die sich für liberal hält, ernsthaft „die Juden“ dazu auffordern, sich beispielsweise von rechten Siedler_innen in Israel zu distanzieren. „Die Muslime“ geraten derzeit aber permanent unter Rechtfertigungsdruck von Seiten der liberalen Intelligenzia. Warum müssen sich die weltweit 1,6 Milliarden Muslime von IS und Konsorten in Geiselhaft nehmen lassen? Was soll der Distanzierungswahnsinn? Warum muss sich der Waldviertler Kirtag nicht von Anders Breivik distanzieren, der sich selbst als „Kreuzritter“ sah? Schließlich berufen sich doch beide auf das Christentum…

Dass die Debatte obendrein noch von einer unzulässigen Vermischung verschiedenster Kategorien wie Islamist_innen, Muslime, Migrant_innen, Asylwerber_innen, Konventionsflüchtlinge etc. (für den durchschnittlichen FPÖ-Funktionär eh im Prinzip alles dasselbe) ist, braucht nicht mehr zu verwundern. Die Begleiterscheinungen der anti-muslimische Hetze von Medien und Politik sind körperliche Angriffe auf Muslime. In den letzten Wochen wurden in Wien drei muslimische Frauen am helllichten Tag in der Öffentlichkeit attackiert, darunter eine 84-jährige Frau mit Gehstock. In Bielefeld und Berlin gab es drei Brandanschläge auf Moscheen innerhalb von acht Tagen.

Der Niedergang des Liberalismus

Die anti-muslimischen Ausfälle, die nicht nur aus der Mitte, sondern vielmehr von den Eliten der Gesellschaft kommen, sind Teil eines bemerkenswerten Niedergangs des bürgerlichen Liberalismus in der „westlichen“ Welt. Die selbsternannten Liberalen können oder wollen sich die Welt nicht mehr erklären, stehen fassungslos vor einer Gesellschaft, die scheinbar aus ihren Fugen geraten ist. Sie verlieren sich in idealistischen Deutungsmustern, die die Problematik im Wesen des Islam oder der Muslime suchen oder, ähnlich wie konservative Gläubige, in Jahrhunderte alten Büchern.

Dabei hat der moderne Jihadismus und insbesondere das in Europa mit ihm sympathisierende Milieu nur bedingt mit Religion zu tun. In seinem im Standard erschienenen Kommentar „Jugendkultur Jihadismus“ weist der Politikwissenschaftler Farid Hafez darauf hin, dass die meisten dieser Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen oft ein wenig religiöses Leben führen. Sie fasten nicht, sie beten nicht, sie besuchen nicht regelmäßig eine Moschee (womit auch die Imame oft nur wenig Einfluss auf dieses Milieu haben). Oft kennen sie nicht einmal die Gebote ihrer Religion. In Großbritannien wurden vor kurzem die beiden 22-jährigen Jihadisten Musuf Sarwar and Mohammed Ahmed wegen Terrorismus verurteilt. Es stellte sich heraus, dass sie vor ihre Abreise nach Syrien die Bücher „Islam for Dummies“ und „Koran for Dummies“ bei Amazon bestellt hatten. Integrationsminister Sebastian Kurz offenbart bloß seine Ahnungslosigkeit wenn er nun die Imame und Religionslehrer „in die Pflicht nehmen“ will, weil diese angeblich am nächsten an den betroffenen Jugendlichen dran wären.

Für ein bestimmtes Milieu an jungen Menschen die häufig sowohl aufgrund ihre Herkunft als auch aufgrund ihrer Klasse diskriminiert und ausgegrenzt werden, gibt es gegenwärtig keine attraktivere „rebellische“ Jugendkultur als den Jihadismus, der religiöse Versatzstücke mit popkultureller Ästhetik auf YouTube verbindet. Es kann viele Gründe haben, warum Jugendliche damit sympathisieren, sich dem Islamischen Staat anzuschließen: Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt, Rassismus, Rebellion gegen ein konservatives Elternhaus. Und selbstverständlich kann es auch gut gebildete Muslime aus der Mittelschicht treffen, auch sie sind schließlich von Rassismus betroffen.

Wer nun unter dem Deckmantel der Religionskritik Muslime unter Generalverdacht stellt, ihnen vorschreiben will, wie sie zu leben haben oder „Pummerin statt Muezzin“-Witze macht, der treibt diese Menschen im schlimmsten Fall erst Recht in die Hände des Islamismus.

Das Phänomen der jihadistischen Jugendkultur in vielen europäischen Ländern sagt mehr über diese Gesellschaften aus als über die sich radikalisierenden Jugendlichen. Denn ganz offensichtlich sind die politisch-ökonomischen Systeme nicht mehr dazu imstande, relevanten Schichten an jungen Menschen ein Versprechen über die Zukunft zu machen. Denn wie sollte es denn bitte anders zu erklären sein, wenn die angeblich so überlegene westliche Gesellschaft auf Ablehnung stößt. Doch während das kapitalistische Krisensystem vor sich hin vegetiert und von zunehmend autoritär-neoliberalen Staaten verwaltet wird, hat auch die Arbeiter_innenbewegung versagt. Im Roten Wien der Zwischenkriegszeit konnte die Sozialdemokratie noch (deklassierte) Jugendliche auf multiethnischer Basis organisieren, ihnen Unterstützung, Halt, Identität und Perspektiven geben – auch mit teils quasi-religiösen Mitteln die uns heute befremdlich erscheinen. Heute fallen SPÖ-Gewerkschaftsspitzen maximal durch mantraartig wiederholte Ablehnung der Arbeitserlaubnis für Asylwerber_innen auf.

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Die ganze Tragweite des liberalen Elends wird erst dann sichtbar, wenn es um die Vorschläge zur Bekämpfung des islamistischen Terrors geht. Denn offenbar soll die freie Gesellschaft durch deren schrittweise Abschaffung verteidigt werden. Innenministerin Mikl-Leitner will, neben dem ein wenig hilflos wirkenden Vorschlag, IS-Symbolik zu verbieten, das Personal des Verfassungsschutzes aufstocken. Dort werden bereits die mangelnden Befugnisse beklagt, so dürfe nicht etwa einfach auf Verdacht ein jedes Facebook-Profil durchstöbert werden. Die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung steht zur Diskussion. Im Innenministerium soll eine „Extremismus-Hotline“ für Angehörige eingerichtet werden, so, als würde ein um seinen Sohn besorgter tschetschenischer Vater freiwillig bei der österreichischen Polizei anrufen.

Der als liberal geltende Sebastian Kurz will den Verhetzungsparagraphen verschärfen. Glauben diese Herrschaften wirklich, dass sie irgendein Problem lösen, wenn zukünftig jeder Jugendliche für ein paar dumme Facebook-Postings verknackt werden kann? Dass verschärfte Gesetze alsbald und insbesondere in Österreich vor allem auch gegen Antifaschist_innen oder Tierrechtler_innen angewendet werden ist anzunehmen.

Historisch ist diese Entwicklung nichts neues. In sich polarisierenden Konflikten tendiert der Liberalismus letztendlich immer zu autoritären Lösungen, schon allein deshalb, da er, mangels gesellschaftlicher Basis keine eigenständige Rolle spielen kann. Die Gefahr für die sogenannte „offene Gesellschaft“ geht nicht nur von gewaltbereiten salafistischen Radikalen aus, sondern auch von so manchen, die vorgeben, diese zu bekämpfen.

Wir wollen hier die Gefahr des Islamismus und Jihadismus nicht runter spielen, keineswegs. Solche Strömungen sind der Todfeind von Emanzipation und Gleichheit. Doch Repression und verschärfte Gesetze bringen nichts, treffen die falschen oder werden letzten Endes gegen ganz andere politische Strömungen eingesetzt. Ähnlich wie im Kampf gegen Faschismus setzen wir hier nicht auf den bürgerlichen Staat, sondern auf Selbstorganisation der Linken und Arbeiter_innenbewegung. Diese müsste sich gleichermaßen gegen islamistische Organisationen stellen wie sich solidarisch mit der Mehrheit der Muslime, die nun von verstärkten Rassismus betroffen ist, zeigen. Denn wenn es die Linke nicht tut, werden es Reaktionäre tun.