Das Ende der Idylle?

Auf Aufruf der Industriegewerkschaft UNIA haben Ende September in Zürich mehr als 17.000 BauarbeiterInnen für ihre Rechte demonstriert. Es war die grösste Gewerkschaftsmobilisierung in der Schweiz seit langem. Schweizerische, süd- und osteuropäische ArbeiterInnen waren gemeinsam auf der Strasse.

Die Schweizer Medien waren ignorant bis feindselig. Denn während schon die Berichterstattung des Schweizer Fernsehens ausgesprochen dünn und tendenziös ausfiel, so schwiegen sich zwei der drei auflagenstärksten Zeitungen tags darauf fast vollständig über dieses Thema aus. Und im dritten Blatt – das übrigens bei unkritischen MedienkonsumentInnen ebenso wie bei den wohl saturierten Damen und Herren im Geruch steht, eher aus einer linken Optik zu berichten – druckte man eine völlig gehaltlose Verunglimpfung und Verzerrung der Geschehnisse ab.

So kam es zu der merkwürdigen Situation, dass im Rahmen der bürgerlichen "öffentlichen Meinung" die ARD-Tagesthemen noch am einlässlichsten über die Schweizer BauarbeiterInnen-Demonstration berichteten und so zu einer Art medialem Deutungsmonopol kamen. Mit einem offenbar nicht ganz zu unterdrückenden Aufflackern von Schadenfreude verkündete der ARD-Sprecher, dass der in Deutschland nur als Idyll bekannten Schweiz angesichts einer ausgehöhlten Sozialpartnerschaft in Punkto Arbeitskämpfen möglicherweise bald "deutsche Verhältnisse" drohen könnten.

Deutsche Verhältnisse?

Und fürwahr: dieses ansonsten von Streiks doch vergleichsweise selten heimgesuchte Land erlebte in den vergangenen knapp drei Monaten, dass die Baustellen in Genf, Neuenburg, Bern, Basel und Zürich verwaist blieben. Und auch in den Stollen der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) wurde die Arbeit niedergelegt – was nun übrigens der Implenia-Konzern mit einer Klage beantworten will, da ihm durch den Streik nach eigenen Angaben rund zwei Millionen Franken Schaden entstanden sein sollen. Ausserdem würden die Ausschaltung des Landesmantelvertrags (Kollektiv-/Tarifvertrag) im Baugewerbe und die damit einhergehenden massiven Einbussen für die Lohnabhängigen weithin als Fanal wahrgenommen, das zu weiteren Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse geradezu einlädt.

Damit ist aber auch bereits gesagt, wie bei diesen Arbeitskämpfen die Rollenverteilung jeweils aussehen würde: denn obschon auch während der Geltungsdauer des Landesmantelvertrages beispielsweise die darin festgehaltenen Mindestlöhne fast in jedem vierten Betrieb unterboten wurden, bedurfte es erst der Vertragskündigung seitens des SBV (Schweizerischer Baumeisterverband), bevor man sich zu einer breiter abgestützten Reaktion durchringen konnte. Und dass man von Gewerkschaftsseite in anderen Branchen in die Offensive gehen würde, zeichnet sich derzeit nun nicht gerade ab. Es gibt daher wenig Anlass, über einen angeblichen Linksruck der Gewerkschaftspolitik zu jubilieren. Bestenfalls können die linkeren Kreise innerhalb der Gewerkschaft ihre Vorstellungen in der gegenwärtigen Situation mit etwas mehr Gewicht vortragen. Der Hauptgrund für die derzeit ergriffenen Massnahmen bleibt aber, dass die Verteidigung des Landesmantelvertrags im Baugewerbe nicht nur für die LohnarbeiterInnen von vitalem Interesse ist, sondern auch für die Gewerkschaften selbst an die Existenzfrage heranrührt.

Insofern überrascht es nicht, dass bereits Stimmen vernehmlich werden, die in der Zerschlagung der Gewerkschaften den eigentlichen Sinn der Vertragskündigung durch den SBV sehen. In der Tat mutet der Ruf nach "mehr Arbeitszeitflexibilisierung" eher vordergründig an in einer Branche, wo bereits unter dem Landesmantelvertrag Unternehmerrisiken wie schlechtes Wetter, technische Pannen oder eine schlechte Auftragslage über ein Überstundenkonto von 100 Stunden (ohne Lohnzuschlag) reguliert werden konnten, welches jeweils in den wärmeren Monaten zwangsakkumuliert wird. Da ist der Schritt zu Arbeit auf Abruf ohnehin nicht mehr gross.

Auch von anderer Seite ist die Stellung der Gewerkschaften in den vergangenen Wochen zusehends ungemütlicher geworden: denn nach der jüngsten Wahlschlappe der unterdessen arg gebeutelten Sozialdemokratie liessen einige ihrer erfolgreichsten KandidatInnen (Claude Janiak, Simonetta Sommaruga) vernehmen, dass sie in der zu starken Ausrichtung auf die Gewerkschaften den Hauptgrund für das Desaster sehen. Es steht also zu befürchten, dass der "natürliche Verbündete" für eine reformistische Politik in der nächsten Zeit eher auf Distanz gehen wird, was wiederum den PragmatikerInnen innerhalb der Gewerkschaften (unter Führung von Co-Präsident Renzo Ambrosetti) Auftrieb geben wird bei ihrem Anliegen, den Rechtsrutsch der Sozialdemokratie gleich nachzuvollziehen.

BauarbeiterInnen und die Linke

Während also die Gewerkschaften schweren Tagen entgegengehen, wird das Vakuum auf der linken Seite des politischen Spektrums immer fühlbarer. Es fehlt nicht etwa an "Verhältnissen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Karl Marx: "Vorwort zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie"): die Wahrscheinlichkeit, dass ein/e BauarbeiterIn sein/ihr Leben eher früher als später von der Invalidenrente wird fristen müssen, ist etwa acht Mal höher als der Durchschnitt. Und der "Kollateralschaden" auf dem Bau belief sich 2006 auf 33 Seelen – wohl nicht zuletzt infolge der hohen Arbeitsintensität und den zeitenweise massiven Verlängerungen des Arbeitstags. Die Bedingungen in Branchen, wo von vorneherein kein gesamtarbeitsvertraglicher Schutz besteht, sind bezüglich Auspressung des absoluten Mehrwerts noch um ein Vielfaches schlimmer. Aber noch rekrutiert sich das Heer dieser "Menschen zweiter Klasse" zu einem so beträchtlichen Teil aus MigrantInnen, dass der Sachverhalt parlamentarisch kaum auch nur den geringsten Ausdruck findet.

Immerhin aber sind Mobilisierungen wie die der BauarbeiterInnen Schritte in die richtige Richtung. Durch gemeinsamen Kampf kann Solidarität entstehen und sich Bewusstsein entwickeln. Nationale Spaltungen und rassistische Vorurteile können überwunden werden, es entstehen Anknüpfungspunkte für die klassenkämpferische und antikapitalistische Linke. Allerdings ist die Linke in der Schweiz derzeit, gelinde gesagt, ziemlich überblickbar. Die Ideologie der alternativlosen oder gar natürlichen kapitalistischen Ordnung ist in den meisten Köpfen tief eingewurzelt, was die materielle Basis in dem Umstand hat, dass die Schweiz einer der Geldspeicher des Imperialismus ist, der einige Wohlstandseffekte zu bieten hat. Ausserdem könnte die Isolation der antikapitalistischen Kräfte von den lohnabhängigen Massen kaum grösser sein. Manche haben überhaupt keine politische Ausrichtung auf die ArbeiterInnenklasse, manche verwechseln die blosse UNIA-Mitgliedschaft mit einer Verankerung im Proletariat, anderen fehlt es völlig an einer realistischen Einschätzung der eigenen Relevanz und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten.

Organisation mit Verankerung nötig

Alle von der ArbeiterInnenklasse und ihren gewählten oder ungewählten VertreterInnen ausgehenden Aktivitäten, insbesondere die hohe Streikbereitschaft der Lohnabhängigen sind selbstverständlich vollauf zu würdigen und zu unterstützen als Versuch, den Angriff der KapitalistInnen-klasse zu parieren. Solange aber keine behutsam aufgebaute, mit sorgsam ausgearbeiteten Positionen versehene revolutionäre Linke existiert, mit einer politischen und organisatorischen Verankerung in der einzigen Klasse, welche dem kapitalistischen Spuk ein für allemal ein Ende bereiten kann, bleibt die Schweiz eine Idylle für KapitalistInnen. Für die Lohnabhängigen ist sie es nie gewesen.