Von Seattle bis Genua

1. Die Demonstrationen gegen die neoliberale Gipfel von WTO, IWF, EU, G8 etc. haben sich seit Seattle zu einem Focus für globalisierungskritische und teilweise antikapitalistische Proteste entwickelt. Es gelang, Unzufriedenheit gegen die Neue Weltordnung zu bündeln. Die Post-Seattle-Bewegung wurde zu einem politische Faktor, dem das politische Establishment Rechnung tragen muss – freilich nur in verbalen Äußerungen und nicht in der realen Politik, dennoch ist der Druck von der Straße spürbar. Positiv ist auch, dass es sich um eine internationale Bewegung handelt, in der globale – wenn auch nicht durchwegs internationalistische – Ansätze überwiegen. Gleichzeitig waren Ausmaß und Charakter der verschiedenen Mobilisierungen aber real sehr stark vom Zustand der Linken und der Arbeiter/innen/bewegung in verschiedenen Ländern abhängig (krass sichtbar im Vergleich zwischen Salzburg und Genua). Die Mobilisierung von 200.000 bis 300.000 Menschen trotz massiver Repression war nicht so sehr Ausdruck einer stabilen internationalen Bewegung als vielmehr eine eindrucksvolle Demonstration der Stärke der italienischen Linken und Arbeiter/innen/bewegung. In Genua kann sicherlich von der bisher bedeutendsten Einbindung der Arbeiter/innen/klasse in die Proteste gesprochen werden.

 

2. Seit Seattle ist, v.a. in Europa, eine linke Dominanz in der Bewegung klar geworden. Dennoch ist die Zusammensetzung äußerst heterogen. Zwar nicht organisatorisch, aber medial und teilweise auch ideologisch dominieren kleinbürgerliche Globalisierungskritiker/innen wie ATTAC und Raisons d’Agir (Pierre Bourdieu) aus Frankreich, wie Susan George, Naomi Klein und Walden Bello aus Nordamerika oder – als linkere Spielart – der Postfordismus-Konzeption eines Toni Negri. Diese "Meinungsführer" sind dabei weniger die Avantgarde, die eine vorwärtstreibende Rolle spielt, sondern eher als Ausdruck einer politisch noch nicht sehr entwickelten Bewegung an die Oberfläche gespült worden.

3. Teile von ihnen sind zwar gegen den Neoliberalismus, nicht gegen den Kapitalismus, sondern für einen anderen Kapitalismus. Dass die Bewegung als Ganzes oder zumindest die klare Mehrheit von ihr "antikapitalistisch" wäre, ist sicherlich nicht zutreffend. Viele propagieren illusionäre keynesianische Reformperspektiven. Vorschläge wie die der sogenannten Tobin Tax beruhen letztlich auf einer unzureichenden bis falschen ökonomischen Analyse des Neoliberalismus, wenn etwa der ATTAC-"Außenminister" Christophe Aguitton in Salzburg seinen Fans referierte, dass der Kapitalismus heute seine Probleme gelöst habe und es jetzt darum gehe, dass auch die Menschen davon profitieren. Die zunehmenden Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems, die verschärfte internationale Konkurrenz, die fortgesetzte Krise in Japan, die Einbrüche in den südostasiatischen ehemaligen "Zukunftsmodellen", die Schwierigkeiten in "Schwellenländern" wie Argentinien und Türkei oder in Russland, die Konjunkturabschwächung in den USA und in Europa werden hier schlicht ausgeblendet. Es wird suggeriert, dass der Kapitalismus auch anders könne, wenn seine Eliten nur wollten. Dahinter stehen oft (z.B. bei Pierre Bourdieu) auch idealistische Vorstellungen über die Entstehung des Neoliberalismus, die auf eine kurzsichtige oder mutwillige Politik der politischen Eliten zurückgeführt wird.

4. Die Kritik richtet sich dementsprechend oft gegen Erscheinungsformen des Systems. Die Kritiker/innen verfügen meist über kein grundlegendes Verständnis von kapitalistischer Ökonomie, von Klassen und Staat. In der Folge landen die meisten bestenfalls bei utopisch-sozialistischen Perspektiven (im Sinne des Frühsozialismus am Beginn des 19. Jahrhunderts). Die globalisierungskritischen Universitätsprofessor/inn/en und Journalist/inn/en sehen die Arbeiter/innen/klasse oft als "verbürgerlicht" und hoffnungslos integriert an. In Ermangelung eines anderen sozialen Subjekts für ihre Vorstellungen landen sie meist dabei Druck auf die kapitalistischen Regierungen ausüben zu wollen, um ihre Anliegen durchzusetzen (ATTAC hofft bezüglich der Tobin Tax beispielsweise auf das EU-Parlament). Diffuse Zivilgesellschaftskonzepte mischen sich mit unterwürfigem NGO-Lobbyismus und zahnlosen Verbraucher/innen/boycott-Strategien. Ebenso naive Hoffnungen im Rahmen des Systems sind die auf halbkoloniale Staaten und deren Eliten, auf die UNO (Walden Bello), auf Ausrottung des Hungers durch Entschuldung oder gar auf eine Reform der WTO. Anachronistisch bis reaktionär wird es schließlich dort, wo vorgeschlagen wird, den Multis durch Vor-Ort-Aktivitäten auszuweichen, im lokalen Widerstand auch mit explizit Rechten zusammenzuarbeiten (Susan George) oder zu traditionellen bäuerlichen, lokalen Wirtschaftsmethoden zurückzukehren (Vandana Shiva).

5. Was die Mobilisierungskontingente betrifft sind freilich die Organisationen der "traditionellen" Linken bedeutender als die in Mode gekommenen Wortführer/innen der "Antiglobalisierungsbewegung". Linke Gewerkschafter/innen und solche Gewerkschaften und reformistische Parteien, die unter Druck einer kämpferischen Basis stehen, haben in einigen Ländern relevante Blöcke der Demonstrationen gestellt. Das drückt einerseits eine ansatzweise Verbindung der Bewegung mit der realen Arbeiter/innen/bewegung aus, bringt aber andererseits mit sich, dass von den reformistischen Strömungen auch sozialchauvinistische Positionen eingebracht werden. Hier ist weder ein Hoffen darauf sinnvoll, dass die mit der Zeit schon von allein ihre Ansichten ändern werden, noch ein angewidertes Abwenden von den Gewerkschaften. Hier ist ein politischer Kampf um den Einfluss in der Arbeiter/innen/klasse entscheidend.

6. Von Seiten der radikalen Linken gibt es in der Bewegung anarchistisch-autonome Kräfte, die teilweise auf die staatlich-"militärische" Konfrontationsstrategie einsteigen und gleichzeitig keine politische Perspektive in die Bewegung einbringen, insbesondere keinen Weg zur Ausweitung auf die Masse der Lohnabhängigen. Ähnliches gilt für die weitgehend italienischen tute bianche mit ihrer eklektischen ideologischen Mischung aus Toni Negri, Michel Foucault und Subcomandante Marcos. Die meisten Organisationen aus trotzkistischer Tradition haben eine im Groben richtige Perspektive verfolgt: Kampf für eine antikapitalistische Ausrichtung der Bewegung und Eintreten für eine Orientierung auf die Einbeziehung der Arbeiter/innen/klasse. Bei einigen dieser Organisationen war damit aber ein gewisser Euphorismus in die als antikapitalistisch charakterisierte Bewegung verbunden, bei manchen auch eine politische Anpassung an die kleinbürgerliche Globalisierungskritiker/innen und ihre Vorschläge.

7. Von unzähligen Kommentator/inn/en und etlichen Politiker/inne/n (etwa dem französischen Außenminister) wird die Seattle-Genua-Bewegung mit der 68er-Bewegung verglichen. Ist das zutreffend? Ja und nein. Wir befinden uns heute in einer anderen Phase des Kapitalismus: Die ökonomische und sozialen Widersprüche und Instabilitäten des Systems sind heute größer als Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre. Aber es handelt sich heute wie damals um eine von Intellektuellen und Jugendlichen ausgehende Bewegung mit einer teilweisen Verbindung zur Arbeiter/innen/klasse. Und es gibt nach der reaktionären Offensive der 80er und 90er Jahre erstmals wieder eine breitere Welle der Systemkritik. Das, was liberale Bürgerliche (etwa Markus Bernath im österreichischen Standard) mit Verweis auf die 68er-Bewegung und die Joschka Fischers den "Mächtigen" zur Eindämmung der Bewegung empfehlen, "die langsame Übernahme ihrer Themen und die politische Einbindung ihrer Führer", ist heute freilich deutlich schwieriger als damals. Die ATTAC-Promis sind diesbezüglich sicher äußerst willig, der Spielraum für ökonomische Zugeständnisse an die Lohnabhängigen und politische an die Bewegung aber ist viel geringer als vor 30 Jahren. Und gleichzeitig ist die radikale Linke heute zwar deutlich schwächer als in den 70er Jahren, aber in den meisten Ländern doch stärker als vor 1968. Darüber hinaus ist heute die politische Hypothek des Stalinismus, mit dem jede Systemkritik sofort konfrontiert wurde, nicht mehr so relevant.

8. Was sind die mögliche Perspektiven für die Bewegung? Die Bourgeoisie setzt – auch angesichts ökonomischer und sozialer Probleme im Weltsystem – auf stärkere Repression mit dem Ziel der Einschüchterung der Mehrheit der Demonstrant/inn/en und einer Kriminalisierung vor allem der radikalen Linken. Über das Ausmaß der Repression scheiden sich freilich die bourgeoisen Geister, soll doch das Vertrauen den bürgerlichen "Rechtsstaat" nicht unnötigerweise erschüttert werden. Mit der Spaltungsstrategie in brave Demonstrant/inn/en und böse Gewalttäter/innen, die auch von den liberalen Bürgerlichen unterstützt wird, war die herrschende Propaganda auch partiell erfolgreich. Die Gefahr einer staatlichen Unterdrückung der Bewegung ist auch nach Genua nicht gebannt – auch wenn die Chancen auf eine Ausweitung der Bewegung durchaus gegeben sind. Gleichzeitig werden die Gipfelmobilisierungen immer schwieriger, weil sich die global leaders in Bergdörfer oder Orte wie Katar zurückziehen. Über Ausbreitung oder Niedergang der Bewegung wird letztlich entscheiden, ob eine Verankerung in der Arbeiter/innen/klasse in den Betrieben gelingt und insbesondere eine Verbindung mit Arbeitskämpfen. Erfahrungen mit dem Potential der Einbindung der Arbeiter/innen/klasse haben viele jugendliche Aktivist/inn/en bereits gemacht – und mit staatlicher Gewalt, die so manche Illusion in die bürgerliche "Demokratie" brutal zerstört hat. Ob daraus die notwendigen politischen Schlussfolgerungen gezogen werden, nämlich insbesondere die des Aufbaus von revolutionären marxistischen Organisationen, wird die politische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Strömungen in der Bewegung zeigen. Der Staat hat jedenfalls Interesse an einer "militärischen" Eskalation, die Linke nicht. Es besteht dabei durchaus auch die Gefahr, dass radikale Kämpfer/innen der Bewegung aus Ohnmacht gegenüber der staatlichen Repression und weil sie keine andere Perspektive finden in der politischen Sackgasse des Terrorismus landen – wie in Deutschland oder Italien bereits in den 70er Jahren.

9. Aufbauend auf den sich entwickelnden antikapitalistischen Stimmungen in einigen Schichten und Milieus wird es in nächster Zeit vor allem darauf ankommen, Leute daraus für den Aufbau von proletarisch-revolutionären Organisationen zu gewinnen. Die Mobilisierung zu dem einen oder anderen Gipfel kann da taktisch sinnvoll sein, entscheidend sind aber Organisationsaufbau und schrittweise Verankerung. Die diesbezügliche Modifizierung der Ausrichtung von einigen Strömungen aus trotzkistischer Tradition kann hier nur begrüßt werden.

Wien, August 2001

 

PS: Als weiterführende Literatur empfehlen wir unsere Broschüre Die ZivilgesmbH und ihre Teilhaber – Zivilgesellschaft, NGOs und das Elend der "kreativen Protestformen", 24 Seiten, 20 ATS / 3 DM / 1,50 Euro, sowie zwei unserer Bücher:

Die Globalisierungsdebatte – Ein marxistischer Leitfaden durch eine widersprüchliche Argumentation, (Marxismus Nr. 12) 168 Seiten, 100 ATS / 15 DM; Die Ende 1997 erschienene Nummer beschäftigt sich zwar nicht mit den Stars der Post-Seattle-Bewegung, die von uns rezensierten Globalisierungskritiker/innen, die Mitte der 90er Jahre in der Diskussion populär waren, haben aber weitgehend ähnliche Argumentationslinien, weshalb viele Kritikpunkte höchst aktuell sind. Das Buch ist vergriffen, die einzelnen Beiträge finden sich aber auf unserer website: Nr.12: Die Globalisierungsdebatte.

Hintergründe und Ursache der ASIENKRISE – Die Entwicklung des asiatischen Kapitalismus vom Zukunftsmodell zum Sorgenkind, (Marxismus Nr. 16) 236 Seiten, 140 ATS / 20 DM / 10 Euro. Diese im Herbst 1999 erschienene Nummer bietet eine grundlegende Einschätzung des Widersprüche der Weltwirtschaft und Länderstudien zu Japan, Südkorea und Indonesien. Bestellungen über agm@agmarxismus.net.