Krawalle in der Pariser U-Bahn

Die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Polizei und jugendlichen sowie weniger jugendlichen Fahrgästen im Pariser Nordbahnhof ist Ausdruck einer seit Jahren stetig anwachsenden polizeilichen Repression in der französischen Hauptstadt – und ihrer Folgen.

Eine Fahrscheinkontrolle zuviel verwandelte am Nachmittag des 27. März die Pariser U-bahnstation "Gare du Nord" in ein Schlachtfeld, auf dem schwer bewaffnete Polizeieinheiten und Fahrgäste stundenlang aufeinander prallten. Ausgelöst wurde die "Schlacht" durch die brutale Behandlung eines "Schwarzfahrers" bei seiner Verhaftung. Der 32-jährige Mann aus der Demokratischen Republik Kongo konnte nämlich nicht nur keinen Fahrschein vorweisen, sondern besitzt auch keine französischen Papiere, ein Umstand, der ihn nicht nur im U-Bahnbereich, sondern in ganz Frankreich zu einem "Illegalen" macht.

Die Tatsache, dass gerade eine Fahrscheinkontrolle das Fass zum überlaufen brachte, verweist auf die tiefer liegenden sozialen und politischen Ursachen der Ausschreitung. Tatsächlich ist für die französische Bevölkerung Kontrolle in all ihren Facetten seit einigen Jahren allgegenwärtig geworden, wobei die polizeiliche Repression besonders im Pariser U-Bahnnetz immer unerträglicher wird. Dabei liegt das Problem nicht in erster Linie bei den Fahrkarten-KontrolleurInnen, die selbst, so ein Sprecher ihrer Gewerkschaft, an einem bestimmten Repressionsmechanismus zu leiden haben: Die Maßnahmen gegen SchwarzfahrerInnen werden von der Polizei als Razzia gegen "illegale" ImmigrantInnen eingesetzt. (Falls die Strafe nicht sofort bezahlt werden kann, sind die Fahrgäste nämlich gezwungen, sich auszuweisen; ist das nicht möglich, wird automatisch die Polizei verständigt.) Die jährlich erstellten Abschiebungsquoten des reaktionären ehemaligen Innenministers und nunmehrigen PräsidentInnenschaftskandidats Nicolas Sarkozy haben ein Klima des Terrors geschaffen, wo jedes Mittel recht ist. Der Gipfel der Frechheit wurde erreicht, als Anfang des Jahres an allen U-Bahnausgängen einer Station polizeiliche Identitätskontrollen durchgeführt wurden. Das Ziel vieler Fahrgäste war an jenem Abend die Armenküche "Restos du Coeur", die an diesem Ort Essen an Bedürftige verteilte. Die Polizei war nicht zufällig im Einsatz und verlangte nicht zufällig nur die Papiere "ausländisch" aussehender Personen.

Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Vorgehen bei großen Teilen der französischen Bevölkerung immer mehr auf Ablehnung stößt. Immer häufiger treten Menschen aktiv gegen die Abschiebung ihrer ArbeitskollegInnen oder Bekannten ein und verstoßen damit bewusst gegen das Gesetz. Im Frühjahr 2006 wurden unzählige Kinder versteckt, um die Abschiebung ihrer Familien zu verhindern. Erst vor kurzem hatten LehrerInnen in Paris versucht, eine Verhaftung abzuwehren: Ein aus China stammender Großvater war gekommen um seinen Enkel von der Schule abzuholen. Die Falle schnappte zu: Identitätskontrolle. Es kam zu Handgreiflichkeiten zwischen LehrerInnen und Polizeibeamten, was mit der Verhaftung der Schuldirektorin endete (es folgten Demonstrationen sowie ein Streik der GrundschullehreInnen).

Das allgemeine Klima der Repression, die Hinterhältigkeit der Methoden sowie die immer häufigeren spontanen Reaktionen, die sie hervorrufen, erklären die Heftigkeit der Ereignisse am Pariser Nordbahnhof. Dadurch wird auch die Sympathie und Unterstützung vieler, nicht direkt beteiligter, Fahrgäste verständlich. Überhaupt handelt es sich bei den Beteiligten nicht ausschließlich um Jugendliche (wie es im Herbst 2005 bei den Ausschreitungen in den Vorstädten größtenteils der Fall war). Mehr als die Hälfte der festgenommenen Personen sind volljährig. Allerdings ist wohl, wie 2005, der Großteil der Beteiligten in den Vorstädten wohnhaft und gehört der ersten, zweiten oder dritten Generation von meist afrikanischen oder arabischen ImmigrantInnen an.

Der Pariser Nordbahnhof ist die erste Haltestelle des Nahverkehrszuges, der am späten Nachmittag all jene nach Hause bringt, die in Paris um wenig Geld arbeiten, um in den Vorstädten um relativ wenig Geld zu wohnen. Der ImmigrantInnenanteil an den Massen, die sich zu den Stoßzeiten in Metros und Züge quetschen müssen, ist dementsprechend groß und die polizeilichen Identitätskontrollen zwecks Erfüllung der Abschiebungsquote folglich besonders zahlreich. Der Ort ist darüber hinaus ein Treffpunkt vieler Jugendlicher aus der Pariser Peripherie, die in ihrem Wohnort weder berufliche noch kulturelle Beschäftigungsmöglichkeiten haben (in einigen Gemeinden erreicht die Arbeitslosigkeit Werte von bis zu 40%). Zum Schutz der im U-Bahnbereich angesiedelten Geschäfte und Imbissbuden patrouillieren deshalb an der "Gare du Nord" besonders viele SicherheitsbeamtInnen (der Staat schützt lieber Privateigentum als Menschen!). Dazu kommt, dass es sich um einen internationalen Bahnhof handelt und aus diesem Grund mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten für den "Kampf gegen den Terrorismus" sorgen. Die FahrkartenkontrolleurInnen eingeschlossen, wird dieser spezielle Ort in Paris von vier Kontrollinstanzen beherrscht: Militär, Polizei, private Sicherheitskräfte und KontrolleurInnen. Verständlich, dass gerade hier die allgemeine Frustration und die Ablehnung gegen dieses Repressionssystem in Wut umschlägt. Nicht verwunderlich, das die Beteiligten der spontanen Proteste Parolen wie „Polizei überall, Gerechtigkeit ist nirgends“ oder „Nieder mit dem Staat, den Bullen und den Chefs" riefen.

Selbstverständlich wird das Ereignis von allen AnwärterInnen des PräsidentInnenamtes ausgeschlachtet. Mit einem Mal hatte sich drei Wochen vor der ersten Wahlrunde ein Thema zurückgemeldet, welches von den bürgerlichen Medien geradezu vermisst worden war: die Sicherheit. Nicolas Sarkozy, der es nicht gewagt hat die Vorstädte zu betreten, seit er im Herbst 2005 die dortigen Jugendlichen als Gesindel beschimpft hat, bleibt seiner Linie ganz und gar treu. Die sozialdemokratische Kandidatin Ségolène Royal – bekannt für ihr Vorhaben, jugendliche StraftäterInnen in Militärlagern zu erziehen – spricht von einem "Scheitern auf der ganzen Linie der Rechten was das Thema der Sicherheit betrifft". Im Jahr 2002 hatte die Konzentration des Wahlkampfes auf das Sicherheitsthema dem rechtsextremen Kandidaten Jean-Marie Le Pen dazu verholfen, den zweiten Wahlgang zu erreichen.

Doch inzwischen scheint es, als hätte sich die Situation geändert und die erdrückende Polizeipräsenz wird vielfach nicht als Garantie für Sicherheit erfahren. Die prekäre Situation von benachteiligten Bevölkerungsschichten wird immer öfter nachvollzogen und Ausschreitungen werden immer häufiger verstanden und unterstützt. Beispiele dafür sind die Massendemonstrationen im Frühjahr 2006 im erfolgreichen Kampf der StudentInnen gegen den CPE-Vertrag für BerufseinsteigerInnen sowie die wochenlangen Straßenschlachten in den französischen Vorstädten im Herbst 2005. Die Einschätzung von Arlette Laguiller, der Kandidatin der trotzkistischen "Lutte ouvrière", dass "Sarkozys Provokationen ihm wie ein Boomerang ins Gesicht schlagen wird", scheint daher nicht aus der Luft gegriffen. Allerdings wird wohl auch im Fall eines Sieges der rechten Sozialdemokratin Royal die Erweiterung der alten Weisheit lauten: Besser kontrollieren um besser zu trennen, besser trennen, um besser zu regieren.