Standort, Standort über alles

Waren es früher noch Gott und Vaterland, für die das gemeine Volk Opfer bringen musste, so ist es heute der Wirtschaftsstandort Österreich. Dabei ist der Unterschied nicht so groß: Es gilt Abstriche zu machen, Verschlechterungen zu ertragen, vermeintlich im Sinne der Gemeinschaft. Doch die Realität sieht anders aus.

 Die kapitalistische Weltwirtschaft befindet sich gegenwärtig in einer historisch einzigartigen, strukturellen Überakkumulationskrise. Überakkumulation bedeutet im wesentlichen, dass es zu viel angehäuftes Kapital gibt, um dieses noch profitbringend einsetzen zu können. Beispielsweise lagen im Jahr 2002 rund ein Drittel der Produktionskapazitäten der internationalen Autoindustrie brach. Die Kapazitätsauslastung der US-amerikanischen Volkswirtschaft liegt momentan bei nur 74%(1). Seit 1997 sind die absoluten Profite, trotz zeitweiliger Aufschwünge, um 60% gesunken(2). Aufgrund der sinkenden Profitrate kommt es zu einer immer heftiger werdenden Jagd nach neuen Absatzmärkten und Anlagemöglichkeiten. Hier erweisen sich die Staaten des ehemaligen "Ostblocks" als neue Chancen für das europäischen Kapital.

Da sich Realinvestitionen(3) in vielen westeuropäischen Staaten nicht mehr lohnen, machen die Unternehmen einerseits Druck auf die Regierungen, Unternehmenssteuern zu senken – also Sozialabbau zu betreiben – und erpressen andererseits die Belegschaften ihrer nationalen Niederlassungen, soziale Verschlechterungen hinzunehmen, um ihren Standort zu bewahren. "Ohne Senkung der Steuern und Lohnnebenkosten fliehen die Unternehmen in die östlichen Beitrittsländer" ist der einhellige Tenor von Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung und Co. In der Tat haben diese Staaten die Körperschaftssteuersätze (bzw. vergleichbare andere Steuern) erheblich gesenkt. In der Slowakei beträgt die KöSt nur mehr 19%, ebenso in Polen, in Ungarn macht sie gar nur mehr 16% aus(4). Da mussten die "ModernisiererInnen" von Schwarz-Blau natürlich nachziehen und senken die Körperschaftssteuer nun von 34% auf 25%. Das, obwohl die österreichischen Unternehmen laut OECD-Vergleichen bisher ohnehin nur rund 18% an effektiver KöSt bezahlt haben.

Steuerdumping

Regierende PolitikerInnen tun oft alles Mögliche, in der Hoffnung, Firmen anzulocken oder Neugründungen von Betrieben in ihrem Einflussgebiet fördern zu können. Als Gegenleistung für ihre Niederlassung erwarten sich die Unternehmen nicht nur perfekte Infrastruktur und bestens ausgebildete Arbeitskräfte, sondern auch deftige Subventionen, Steuererleichterungen und Abschreibungsmöglichkeiten. Unterm Strich steigen dann einige Großkonzerne sogar mit einen Plus aus und beteiligen sich damit keineswegs an der Finanzierung von Infrastruktur und Bildungswesen.

In den USA beispielsweise zahlen ganze 17% der Unternehmen praktisch überhaupt keine Steuern. Ein anschauliches Beispiel bietet das Imperium Siemens: Dieser Konzern führte noch 1991 fast die Hälfte des Gewinns (47%) an die 180 Staaten ab, in denen er Filialen unterhält. Innerhalb von vier Jahren konnte er diese Quote auf nur noch 20% drücken(5). General Motors wiederum hat sich in Polen und Thailand eine zehnjährige völlige Steuerfreiheit (!) ausgehandelt(6).

Die Gewerkschaftsspitze verweist stets darauf, dass die österreichischen Lohnstückkosten, also Bruttogehalt, Beiträge zur Sozialversicherung, Sonderzahlungen, Weiterbildung, usw., im internationalen Vergleich ohnehin niedrig sind. Tatsächlich kostet eine Arbeitsstunde in der verarbeitenden Industrie in Österreich 21 Euro, während sie etwa in Deutschland 26,16, in der Schweiz 25,96, in den USA 22,99 und in Japan immerhin noch 22,22 Euro beträgt(7). So gesehen ist das Argument natürlich richtig – der Mythos vom Hochsteuerland Österreich ist allein schon angesichts der 1200 steuerfreien Privatstiftungen unhaltbar. Andererseits müssen wir uns auch die Frage stellen, warum der ÖGB stolz darauf ist, welch geringen Anteil der KapitalistInnen an den Sozialleistungen und damit indirekt am produzierten Reichtum er akzeptiert.

Alternativen?

Wer das Spiel der Standortlogik mitspielt, hat aber bereits verloren. Auch die Betriebsräte der niederösterreichischen Semperit konnten damals die Stilllegung ihres Werkes nicht verhindern. Indem sie nach und nach den Vorgaben des Conti-Managements zustimmten, brachten sie die Belegschaft nur noch mehr in die Defensive. Das Resultat war/ist eine komplette Schließung des Standorts.

Ein Verzicht auf erkämpfte Rechte oder die Zustimmung zu sogenannten "Rationalisierungmaßnahmen" "sichert" den Standort vielleicht kurzfristig. Aber letztendlich nützt diese Standortlogik nur den KapitalistInnen, die dadurch erst auf den Geschmack kommen, und mit einem noch schamloseren Ausnutzen dieser Bereitschaft zum Verzicht antworten. Waren wir noch in den 70er oder 80er Jahren Zeugen eines massiven Sterbens der österreichischen Textilindustrie, so werden diese Betriebe nun von traditionellen Billiglohnländern wie Ungarn weiter östlich, nach Rumänien oder Bulgarien verlegt. Sobald dann Osteuropa nicht mehr "billig" genug ist, werden die Produktionsstätten eben wieder woanders hin verlagert, z.B. nach Südostasien oder China.

Letztendlich kommt es zu einer weltweiten Nivellierung nach unten. Es gibt also einerseits einen Konflikt um die Billigarbeitsplätze zwischen den Staaten des Nordens und jenen des Südens, andererseits einen innerimperialistischen Wettbewerb zwischen EU und USA um die hochqualifizierten Arbeitsplätze in den kapitalistischen Zentren.

Viele Menschen werden sich jetzt nach Alternativen zur Standortlogik fragen. Nationalistische Konzepte, wie von der FPÖ propagiert, sind jedenfalls abzulehnen. Diese "Kapitalismuskritik von Rechts" suggeriert, dass es einen Unterschied zwischen einheimischem "gutem" und ausländischem "bösem" Kapital gibt – eine völlig hirnrissige These. So nebenbei wirkt die FPÖ mit dieser Politik ohnehin sehr unglaubwürdig, denn auch der freiheitliche Nationalratspräsident Thomas Prinzhorn hat in den 90er Jahren zwei seiner österreichischen Papierfabriken geschlossen und dafür neue Werke in Györ und Sopron gegründet.

Ebenso wenig würde eine von Organisationen wie Attac(8) geforderte Rückkehr zum Protektionismus nützen: Die Errichtung von Handelsbarrieren und Schutzzöllen wäre heute bei der globalen Verflechtung von Mutter- und Tochtergesellschaften relativ wirkungslos. Zudem würde ein Zurückziehen auf nationale Autarkie kleine Binnenmärkte wie Österreich in den wirtschaftlichen Ruin stürzen.

Internationale …

Die Antwort auf die Frage der Standortlogik ist simpel: Internationale ArbeiterInnensolidarität! Einen eindrucksvollen Beweis, dass dies nicht nur eine leere Worthülse ist, lieferten die ArbeiterInnen von Renault im Jahr 1997. Nachdem das Management des Konzerns beschlossen hatten, ein Werk im belgischen Vilvoorde zu schließen und ins spanische Valladolid zu verlegen, kam es zu grenzübergreifenden Protesten der Renault-ArbeiterInnen. All die neunmalklugen bürgerlichen Hofschreiberlinge, die zuvor nur Spott und Hohn für die totgesagte ArbeiterInnenbewegung übrig hatten, staunten nicht schlecht, als es zu einem einstündigen Proteststreik in den Renault-Werken Frankreichs, Belgiens und Spaniens kam. Vor dem Renault-Firmensitz in Frankreich gab es eine mehr als 10.000 TeilnehmerInnen fassende Demonstration samt internationaler Beteiligung. Die spanischen Renault-Beschäftigten streikten also gegen Investitionen im eigenen Land, denn sie wussten, dass es sie als nächstes treffen würde.

Erfolgreich waren auch die europaweiten Protestaktionen gegen die Schließung des General Motors-Werk in Luton/Großbritannien im Januar 2001. Mehr als 40.000 der insgesamt 80.000 europäischen GM-Beschäftigten beteiligten sich an Solidaritätsstreiks – von England über Spanien und Portugal bis Deutschland standen die Fabriken still. Durch gemeinsames Vorgehen der Belegschaften konnten die Pläne des Managements durchkreuzt werden. Solche und ähnliche Erfahrungen zeigen, was möglich ist und was noch möglich wäre.

… Solidarität!

Anstatt die KapitalistInnen wie das Kaninchen vor der Schlange anzuflehen, doch bitte mit den Produktionsstätten in Österreich zu bleiben, sollte der ÖGB gemeinsam mit KollegInnen aus ganz Europa für die Angleichung der Löhne nach oben und für mehr und bessere soziale Rechte kämpfen. Einheitliche, effektive und vor allem demokratische, europaweite Gewerkschaftsstrukturen sind längst überfällig. Betriebsräte in gefährdeten Werken dürfen sich nicht zum Werkzeug der Unternehmensführung machen lassen, schließlich haben sie die Aufgabe, die Interessen der Belegschaft zu vertreten, und nicht, mitzuhelfen, wenn es um Verschlechterungen geht.

Durch die enorme Spezialisierung und die zunehmende internationale Verflechtung im modernen Kapitalismus erzielen Streiks heutzutage eine unglaubliche Wirkung. Daneben können auch Blockaden eine effektive Eingriffsmöglichkeit auf ökonomischem Gebiet darstellen. Letztendlich ist der Spielraum für reformistische Forderungen im momentanen Stadium des Kapitalismus aber äußerst gering, und wer die Forderung nach höheren Löhnen und dergleichen stellt, stößt sehr schnell an die Grenzen des Systems.

Der Sozialabbau durch viele "linke" Regierungen ist kein Unfall oder individuelles Versagen. Sobald der Kapitalismus als Bezugsrahmen für die eigene Wirtschaftspolitik akzeptiert wird, ist die Zustimmung zu sozialen Verschlechterungen fast zwangsläufig. Entweder wird das Kapital bei der Drohung mit Betriebsverlagerungen enteignet, oder es muss hofiert werden.

Durch die Krise kommt es auch zu einer verschärften Konkurrenz unter den KapitalistInnen. Das führt zu Kapitalvernichtung (Fusionen mit Stilllegungen) Rationalisierungsmaßnahmen, Lohnkürzungen und Sozialabbau, aber niemals zu einem selbstverschuldeten Zusammenbruch des Kapitalismus. Dafür müssen schon wir sorgen. Nur gemeinsam und grenzübergreifend können wir die Abwärtsspirale der Standortlogik stoppen und dieses historisch längst überholte System zu Fall bringen.

Fußnoten:
1 AGM: Skizze der intern. Lage 2004
2 ebenda
3 Statt Investitionen in die Realwirtschaft bilden die Konzerne riesige Geldkapitale. Es kommt zu einer gefährlichen Aufblähung der Finanzmärkte.
4 Wifo/KPMG
5 H.P. Martin und H. Schumann: Die Globalisierungsfalle, Reinbek 1997
6 ebenda
7 Profil 03/2004
8 Mehr zur Politik von Attac u.a. in MR 14 und 18