Polarisierung in Frankreich. Sieg für Le Pen, Lutte Ouvriere und LCR am Vormarsch

Der entscheidende Faktor für das Wahlergebnis bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich ist das Desaster der "pluralistischen Linken", also der Regierungskoalition aus Sozialdemokratie, Grünen und der Kommunistischen Partei. Der Konservative Jacques Chirac hat weniger Stimmen bekommen als bei der ersten Runde der letzten Präsidentschaftswahlen 1995, der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen lediglich um 230.000 Stimmen mehr als 1995. Kein "Erdrutsch" Richtung Le Pen also. Trotzdem stehen er und Chirac als strahlende Sieger da. Grund dafür ist die hohe Wahlenthaltung besonders in den Arbeiter/innen/bezirken und die damit verbundenen massiven Stimmenverluste für Lionel Jospin und den KPF-Kandidaten Robert Hue.

Die Sozialistische Partei hat gegenüber 1995 fast 2,5 Millionen Stimmen verloren und mit 16,2% eine historische Niederlage einstecken müssen. Die KP-Kandidatur ist mit 3,4% ein dramatischer neuer Tiefpunkt in der Zersetzung der einst mächtigsten Partei der französischen Arbeiter/innen/klasse. Gleichzeitig erzielten Kandidat/inn/en aus trotzkistischer Tradition (Arlette Laguiller, Olivier Besanconet und Daniel Gluckstein) insgesamt über 10% der Stimmen. Laguiller (Lutte Ouvriere) erreichte zwar weniger als die Umfragen vorhergesagt hatten und nur um 0,5% mehr als 1995. Damals war sie allerdings die gemeinsame Kandidatin von LO und LCR, während die Ligue Communiste Revolutionnaire diesmal getrennt antrat und 4,3% der Stimmen erreichte. Für eine LO-Alleinkandidatur sind die 5,8% (über 1,6 Millionen Stimmen) von Laguiller ein massiver Zugewinn. Dabei ist auch festzuhalten, dass LO und LCR für unterschiedliche Wähler/innen/gruppen stehen. Die LO-Stimmen kommen überwiegend aus der Industriearbeiter/innen/schaft, die der LCR vor allem aus der "Bewegungslinken", also von Student/inn/en und bestimmten Gruppen von Beschäftigten im öffentlichen Dienst.

Für den Kollaps der Regierungsparteien die "Zersplitterung der Linken" oder gar die Kandidaturen von linksradikalen Organisationen verantwortlich zu machen, ist ebenso heuchlerisch wie absurd. Erstens war durchaus auch die Rechte zersplittert und Kandidaten wie der Konservative Francois Bayrou (6,8%), der Jägerführer Jean Saint-Josse (4,2%) und der Rechtsextremist Bruno Megret (2,3%) kosteten Chirac und Le Pen sicher etliche Stimmen. Vor allem aber hat die "pluralistische Linke" einfach das Vertrauen von großen Teilen der Arbeiter/innen/klasse verloren – und das hat sie sich selbst zuzuschreiben.

Ihre Kandidaten haben am 21. April die Quittung für ihre Regierungspolitik erhalten, die in den letzten Jahren Sozialabbau, Kündigungen, Perspektivlosigkeit für die Jugendlichen, Angriffe auf die Einwander/innen und Asylant/innen bedeutet hat. Die Regierung Jospin mit ihren sozialdemokratischen, stalinistischen und grünen Ministern, beschloss unter anderem

* die Fortsetzung der Privatisierungen (EDF); * unter dem Deckmantel des "lebenslangen Lernens" die Ausweitung der prekären Arbeitsverhältnisse;
* ein Gesetz zur "Einführung der 35-Stunden-Woche", das in seiner Substanz auf eine Verlängerung der Arbeitszeit und eine Erhöhung des Leistungsdrucks hinauslief;
* massive Einsparungen im Gesundheitssektor, vor allem bei der Spitalsversorgung;
* ein Gesetz über die "soziale Modernisierung", das Entlassungen unter Einbindung der Gewerkschaften und der Gewerkschaftsdelegierten in den Betrieben begünstigt;
* eine Aufrüstung der Repressivkräfte im Namen des "Kampfes gegen die Gewalt in den Vorstädten";
* eine Einschränkung der Ausgaben für die öffentliche Ausbildung; * die Beteiligung an den imperialistischen Militärschlägen gegen Serbien und Afghanistan.

Der Erfolg Le Pens lässt sich deshalb nur zu einem Teil daraus erklären, dass der kandidierende Präsident Jacques Chirac gemeinsam mit den bürgerlichen Medien die "Sicherheitsfrage" (Gewalt in den Vorstädten) zum zentralen Wahlkampfthema gemacht und damit den Rechtsextremisten ein ideales Propagandafeld aufbereitet hat. Die 16,9% der Stimmen für den Kandidaten der Front National sind ein Ausdruck eine politischen und sozialen Krise, welche die "pluralistische Linke" großteils selbst verschuldet hat. Das erklärt unter anderem die extrem gesunkene Wahlbeteiligung – in proletarischen Regionen Frankreichs sind bis zu 40 % der Arbeiter/innen nicht zu den Wahlen gegangen, weil sie keinen Unterschied in den Programmen von Chirac und Jospin erkennen konnten.

Die Opposition von LO und LCR gegen die arbeiter/innen/feindliche Politik der Regierungslinken hat zu einem beachtlichen Stimmenergebnis geführt. Diese Resultate bedeuten die Abwendung eines Teils der französischen Arbeiter/innen/klasse von den Parteien der französischen "Links"regierung und ihrer neoliberalen Politik und die Hinwendung zu einer klassenkämpferischen und internationalistischen Perspektive.

Dementsprechend präsentierte sich Arlette Laguiller in ihrem Wahlkampf im Unterschied nicht nur zu Chirac, Le Pen und Chevenement, sondern auch zu Jospin, Hue und Mamere nicht als Kandidatin für "alle Franzosen". Dahinter verberge sich nur die Verwischung der Klassenkonflikte. Sie sei eine Kandidatin der Arbeiter/innen/klasse des Landes, zu der freilich auch die Millionen Arbeitslosen, Pensionist/inn/en und die Leute zählen, die in Frankreich leben und arbeiten, aber keine Staatsbürger/innen sind. Und in ihrer Abschlusswahlveranstaltung am 14. April machte sie vor über 6000 Leuten erneut klar, dass Wahlen im bürgerlichen System nichts ändern, dass sie aber unter anderem die Möglichkeit bieten, einen Protest auszudrücken, und dass dieser Protest ein Zeichen der Unterstützung für kommende Auseinandersetzungen sein kann. Entscheidend sei dabei der Aufbau einer neuen Partei der Arbeiter/innen/klasse.

In der im Wahlkampf immer mehr ins Zentrum der Auseinandersetzungen gerückten Frage der Gewalt in den Vorstädten haben Laguiller, Besanconet und Gluckstein einen klaren Klassenstandpunkt eingenommen: Gewalttätigkeit und (Jugend)Kriminalität sind keine sozialen "Ausnahmeerscheinungen", die mit polizeilichen Mitteln bekämpft werden können, sondern Ausdruck einer sozialen Zersetzung, die Jugendlichen – speziell aus Einwandererfamilien – keine Chance auf eine adäquate Bildung, Arbeitsplätze und die materiellen Befriedigung ihrer sozialen Bedürfnisse bietet.

Die Stimmen für Arlette Laguiller (LO), Olivier Besanconet (LCR) und Daniel Gluckstein (PT) sind ein Ausdruck dafür, dass bewusste Teile der Arbeiter/innen/klasse und der Jugend bereit sind, bei der Suche nach einer Lösung für ihre sozialen Probleme auf der Wahlebene mit dem bestehenden System der gaullistischen V. Republik zu brechen und bei der Suche nach Lösungsansätzen weit über den Rahmen der traditionellen Linken hinauszugehen bereit sind.
Umso wichtiger war die erste Stellungnahme Arlette Laguillers am Abend des 21. April, die unumwunden erklärte, dass es im zweiten Wahlgang keine Unterstützung für den "demokratischen" Kandidaten der Bourgeoisie, Chirac, geben könne.

Demgegenüber haben Spitzenpolitiker/innen der SP sofort erklärt, am 5. Mai für die Wahl Chiracs aufzurufen. Was als "antifaschistische Stimmabgabe" verkauft wird, ist nur ein neuer Schritt auf der schiefen Ebene der Klassenkollaboration und ein katastrophaler Versuch, im Namen der "Verteidigung der Demokratie" die Arbeiter/innen an das bürgerliche Parteienlager zu binden. Der Kampf gegen die jetzt betont selbstbewusst auftretende extreme Rechte kann nicht losgelöst vom Kampf gegen die bürgerliche Politik der jetzigen Regierung geführt werden. Laguiller hat zu Recht darauf hin gewiesen, dass, unabhängig von den Stimmen bei Wahlen, das Proletariat die Majorität in der französischen Gesellschaft darstellt. Jetzt kommt es darauf an, in den Betrieben und den Gewerkschaftsverbänden die Arbeiter/inn/en für den Kampf um ihre Rechte und gegen die Fortsetzung der Politik des Sozialabbaus zu gewinnen.

Vor dem zweiten Wahlgang und den Parlamentswahlen im Mai und Juni kündigt sich eine deutliche Polarisierung der französischen Innenpolitik an. Schon spricht Le Pen von einer Großmobilisierung seiner FN für den 1. Mai. Trotz aller Verwirrungen bei den Losungen haben die ersten, spontanen Demonstrationen gegen die extreme Rechte in der Nacht vom 21. auf den 22. April gezeigt, dass auf den Straßen gegen die Rechte mobilisiert werden kann und muss.

LO, LCR und PT müssen jetzt nicht nur versuchen, ihr elektorales Abschneiden in eine verstärkte organisatorische Verankerung in der Klasse selbst umzumünzen, sondern auch einen energischen Kampf für die Einheitsfront der Arbeiter/innen/organisationen führen. Nur so kann den Absichten der reformistischen Bürokratien entgegengetreten werden, die Wut der klassenbewussten Arbeiter/innen über den Erfolg Le Pens in "zivilgesellschaftliche Geplänkel" zu kanalisieren.

Wie die Situation in Frankreich nun einzuschätzen ist und welche Aufgaben und Chancen sich für die radikale Linke ergeben, werden wir am 3. Mai bei unserer Veranstaltung mit einer Genossin der LO-Fraction diskutieren.

Wien, 23.4.2002

Literaturempfehlung

Anton Dannats Geschichte der Frühzeit der trotzkistischen Bewegung in Frankreich ist im deutschen Sprachraum wohl das Standardwerk zu diesem Thema. "Trotzkismus in Frankreich 1924-1939" macht begreiflich, warum trotz aller Schwierigkeiten und Verfolgungen diese Strömung der Arbeiter.innen.bewegung nun scheinbar "überraschend aus dem Nichts" auftaucht. Denn die französischen Trotzkist.inn.en verfügen über eine jahrzehntelange Tradition, deren erste Entwicklungsphase Dannat im Detail herausarbeitet. Darüber hinaus kann Dannats Buch mit Fug und Recht als brillant recherchierte Geschichte Zwischenkriegs-Frankreichs gelesen werden und damit im deutschen Sprachraum vorhandene Wissenslücken schließen.

Trotzkismus in Frankreich 1924-1939
(Marxismus Nr. 11)
ISBN: 3-901831-07-X
360 Seiten, 13 Euro