Laufsportideologie. Oder: Gegen die “natürliche” Betrachtungsweise des Sports

In Wien steht der alljährliche Marathonlauf vor der Tür. Die mediale Laufbegeisterung erreicht damit in Österreich ihren unvermeidlichen Höhepunkt. Dazu einige Überlegungen von Maria Pachinger, die selbst mehrere Marathons absolviert hat.

Sportliche Betätigung hat nach kapitalistischer Logik eindeutig in die
Kategorie "Privatvergnügen" zu fallen, also in die Freizeit der
Beschäftigten. Jeder habe schließlich selbst dafür zur sorgen, dass es
ihm gut geht, so die Devise. Bei der Arbeit wird die zu leistende
Leistung vorgeschrieben, die Erreichbarkeit dieser Vorgabe, die
Leistungsfähigkeit, muss von der Arbeiterin / vom Arbeiter selbst gewährleistet werden – sie/er muss sich in ihrer/seiner Freizeit von und für die Arbeit erholen. Die
"freie" Zeit wird so in den Dienst der Arbeitszeit
gestellt. Dummerweise macht der unselige "Faktor Mensch" dieser
reibungslosen Logik des Kapitalismus einen Strich durch die
Rechnung. Zumindest belegen Statistiken der Rentenversicherer, dass
nur ein Drittel aller Beschäftigten arbeitend das Rentenalter
erreicht. Ausschlaggebend dafür sind, laut des Verbandes der
deutschen Rentenversicherungsträger, neben diversen Erkrankungen des
Bewegungsapparates und des Nerven- und Kreislaufsystems zunehmend
psychische Erkrankungen (Franz Eppinger, Praxis Lauftherapie:
Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt; in: Hilf dir selbst: laufe).

Belastungen durch Stress seien die "Epidemie des 20.Jahrhunderts",
bestätigte die Internationale Arbeitsorganisation(ILO) in ihrem World
Labour Report 1993 die Zunahme psychischer Krankheiten. Es seien heute
weniger die "alten" Gefährdungen wie schwere körperliche Arbeit oder
negative Umgebungseinflüsse, welche die Gesundheit am Arbeitsplatz
bedrohen. Vielmehr seien es die "unspezifischen
Belastungskonstellationen", die als psychosozialer Stress ganz
unterschiedliche Beschwerdebilder hervorrufen, für die keine
"naturwissenschaftlich bestimmten "Schädigungsgrenzen' angegeben
werden können (Eppinger). "Klassische Belastungen" nehmen in
West-Europa und Nord-Amerika ab, dafür schlagen sich den ArbeitnehmerInnen
psychische Faktoren wie Stress und Konkurrenzdruck – nicht zuletzt auf
Grund der rasanten Steigerung des Arbeitstempos in der EU – verstärkt
auf den Magen", bescheinigt auch eine Studie der Europäischen Stiftung
für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Solidarität
Nr.836/Juli-August 2001).

Abgesehen von der frühzeitigen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit schlägt
sich die Ausbreitung der so genannten Zivilisationskrankheiten auch auf
die Produktivität der Arbeit nieder. Das so genannte "allgemeine
Interesse" (verkörpert von Staat und Wirtschaft) ist alarmiert: es
muss etwas getan werden, um die Reproduktion der Arbeitskräfte auch
weiterhin gewährleisten zu können. Wie gelegen kommt da der alte
Stehsatz vom "Gesunden Geist in einem gesunden Körper" – und man
besinnt sich auf die positiven Auswirkungen sportlicher Aktivitäten
auf die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Sporttreibenden. Der Sport
soll zunutze gemacht werden, um die Leistungsfähigkeit der arbeitenden
Menschen – die während der Arbeit verbraucht wird – wieder
herzustellen. Damit stellt der Sport einen wesentlichen Faktor für die
Erhaltung des "Humankapitals" dar.

Auch die Österreichische Bundesregierung, konkret das
Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen wurde sich
des (systemerhaltenden) Potentials des Sports bewusst und gab bei der
Österreichischen Bundessportorganisation (BSO) eine sozioökonomische
Analyse der Auswirkungen des Sports auf die Gesundheit in Auftrag
(Sport und Gesundheit – eine sozio-ökonomische Analyse, Hrsg: BM für
soziale Sicherheit und Generationen).

Sport und Gesundheit – Eine sozio-ökonomische Analyse

Ziel dieser umfangreichen und interdisziplinär angelegten Studie ist
eine volkswirtschaftliche Kosten/Nutzen-Rechnung des Breiten- und
Freizeitsports in Österreich. Auf der Kostenseite werden die Ausgaben
für Sportverletzungen und Sportunfälle statistisch erfasst und
berechnet; auf der Nutzenseite wird – in Kongruenz zur Kostenseite –
berechnet, wie einzelne Gruppen der österreichischen Bevölkerung je
nach Intensität ihrer Sportaktivitäten zur Vermeidung von sozialen
Kosten beitragen, die innerhalb des sozioökonomischen Raumes
(Gesundheitssystem, Sozialversicherung usw.) anfallen.

Die Gegenüberstellung des Nutzens sportlicher Aktivität mit den Kosten
von Sportunfällen erbringt folgendes Ergebnis:

* Die durch Sportunfälle entstehenden Kosten betragen insgesamt rund 4,15
Mrd. ATS, die großteils durch die Positionen "Beruflicher Produktionsausfall
durch Invalidität" und "Krankenstand" entstehen.

* Der Nutzen (=Einsparungen) des gegebenen Levels sportlicher Aktivität in
Österreich beträgt rund 7,8 Mrd. ATS, womit ein positiver Saldo von rund
3,65 Mrd. ATS vorliegt. Der Nutzen ergibt sich großteils aus Einsparungen in
den Kostenarten "Beruflicher Produktionsausfall durch Tod" sowie
"Behandlungskosten".

* Daraus resultiert, dass nicht die Sportausübung, sondern die
Nicht-Sportausübung mehr Kosten verursacht.

* Die durch die relative Inaktivität der wenig oder gar nicht
sportausübenden Bevölkerungsgruppe verursachten Kosten belaufen sich auf
rund 11,5 Mrd. ATS. Mit anderen Worten: Würde die Risikogruppe
"inaktiv-gering" (1-2 Mal pro Monat sportliche Betätigung) jeweils zur
Hälfte in die Risikogruppen "moderat" (1-2 Mal pro Woche sportliche
Betätigung) und "aktiv-hochaktiv" (3 Mal oder mehr pro Woche sportliche
Betätigung) transferiert werden, würde dies einen zusätzlichen Nutzen- bzw.
Einsparungseffekt von 11,5 Mrd. ATS bringen.

Aus den Ergebnissen der Studie geht klar hervor, welches
Einsparungspotential und welchen volkswirtschaftlichen Nutzen der Sport in
sich birgt. Die Kosten, die durch Sportunfälle anfallen, stehen in keiner
Relation zum Nutzen, die der Sport in Form von nicht verschwendeten
Ressourcen, besserer Arbeitsfähigkeit, nicht gebrauchten Krankenständen
etc. mit sich bringt. Außerdem lässt sich dieses Verhältnis noch weiter zu
Gunsten der Nutzenseite verschieben: durch die Verminderung der
Unfallkosten. Bei der Problematik der Sportunfälle handle es sich der Studie
nach um ein "hochkomplexes multikausales Syndrom", das nur langfristig
systematisch erforscht werden könne. Einige wesentliche Differenzierungen
können jedoch jetzt schon vorgenommen werden:

* Drei Sportarten – in der Reihenfolge Alpiner Schilauf, Fußball und
Radfahren – sind für über 60 Prozent der medizinischen Behandlungskosten
"verantwortlich". Zählt man "Radfahren im Straßenverkehr" hinzu, so erhöht
sich der Anteil dieser drei Sportarten auf zwei Drittel der
Behandlungskosten.

* Zwei Sportarten – Schifahren und Radfahren – verursachen fast 50 Prozent
der volkswirtschaftlichen Gesamtkosten. (Wobei hier unbedingt angemerkt
werden muss, dass Radfahren mit 49 Prozent die absolute Nummer Eins in der
Rangreihe der ausgeübten Sportarten darstellt).

* Die folgenschwersten und damit teuersten Unfälle ereignen sich beim
Schwimmen (v.a. Springen und Tauchen) und beim Paragleiten (und ähnlichen
Sportarten).

Der Schluss der Studienautoren: "Jedenfalls sollte sportlichen Aktivitäten
mit geringem Verletzungsrisiko und hohem gesundheitsfördernden Potential
(Laufen, Gymnastik etc.) besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden."

Die ökonomische Nutzung des Sports im Wandel der Geschichte

Es wäre allerdings weit gefehlt, anzunehmen, dass die wundersame Wirkung des
Sports auf die Reproduktion der Ware Arbeitskraft erst heute entdeckt worden
ist. Tatsächlich lässt sich die bewusste betriebswirtschaftliche Förderung
des Sports bis ins 19.Jahrhundert hinein (wenn nicht sogar noch weiter)
zurück verfolgen. So fasste Carl Diem, ein Vertreter der deutschen
bürgerlichen Sportbewegung schon im Jahr 1923 die positiven Auswirkungen des
Sports folgendermaßen zusammen:

"Leibesübungen bedeuten für die Wirtschaft: Verringerung der Krankenkosten,
Verringerung der Unfallkosten, Hinausschieben der Invalidität, den
Produktionsgewinn der Gesundgebliebenen und Nichtverunglückten, die
geistigen Abwehrkräfte gegen politische Verhetzung, die seelischen
Abwehrkräfte gegen das Entseelte des taylorisierten Arbeitsvorgangs."
(Gertrud Pfister, Stählung der Arbeitnehmerschaft ist Stärkung der
Wirtschaft? in: Zwischen Arbeitnehmerinteressen und Unternehmenspolitik
(Hrsg.: Gertrud Pfister), Berlin 1999)

Was sich indes sehr wohl dem Wandel der Zeit unterworfen hat, sind die
Formen, die Motive und die Akteure der Sportförderung.

Zumeist wird die gesundheitspräventive Wirkung, die von sportlicher
Aktivität ausgeht, als Hauptmotiv der betrieblichen Sportförderung
dargestellt, tatsächlich spielen neben diesem humanistisch-fürsorglichen
Aspekt noch ganz andere Beweggründe eine Rolle. Im Deutschland der 20er
Jahre sah sich der Kapitalismus mit einer Reihe von Problemen konfrontiert.
Durch die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft sahen sich die
Unternehmer zu umfassenden Rationalisierungsmaßnahmen in der Produktion und
der Betriebsorganisation "gezwungen". Diese Bestrebungen ließen sich jedoch
angesichts der sich zunehmend radikalisierenden ArbeiterInnenschaft nicht so ohne
weiteres um- und durchsetzen ohne die wirtschaftliche Stabilität, den
Klassenfrieden und damit die Vorherrschaft der kapitalistischen
Produktionsweise zu gefährden. Zur Bewältigung dieser Krisensituation setzte
die Bourgeoisie neben Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse auf politischer
und ökonomischer Ebene schließlich auf das altbewährtes Mittel der
"Ideologiekeule", deren Schlagkraft durch die Institutionalisierung des
Sports auf betrieblicher Ebene wesentlich verstärkt werden sollte. Mit der
Propaganda der "Werksgemeinschaft" sollten die Klassen-und
Interessensunterschiede zwischen Proletariat und Bourgeoisie zu Gunsten des
"Wohls des Unternehmens" verdeckt werden. Die Organisation des
Betriebssports hatte dabei folgende Funktionen:

* Allgemeine Sozialdisziplinierung der Belegschaften durch den streng
reglementierten, mannschafts- und gemeinschaftsorientierten Sport (von der
Arbeitgeberseite auch als Ausgleich für die Abschaffung der allgemeinen
Wehrpflicht angesehen)

* Bindung der ArbeiterInnen an die Unternehmen zur Bildung von motivierten
Stamm(!)belegschaften

* Erhöhung der physischen Arbeitskraft und psychischen Leistungsbereitschaft
und Verminderung der Unfallhäufigkeit am Arbeitsplatz

* Fernhalten der ArbeiterInnenschaft von der Politik, d.h. von KPD, SPD, den
Gewerkschaften und der expandierenden Arbeitersportbewegung (Andreas Luh,
Betriebssport in Deutschland. In: Zwischen Arbeitnehmerinteressen und
Unternehmenspolitik (Hrsg.: Gertrud Pfister), Berlin 1999)

Betriebssport – eine reaktionäre Angelegenheit

Die Arbeitersportbewegung, die gegenüber dem Betriebssport einen viel
größeren Stellenwert aufzuweisen hatte, stand den "gelben
Betriebssportvereinen" ausgesprochen feindlich gegenüber. Ein Funktionär
brachte die Kritik der revolutionär orientierten ArbeiterInnensportler auf den
Punkt:

"Es dürfte wohl klar sein, warum wir Arbeiter den Firmensport bekämpfen
müssen. Nicht aus Konkurrenzneid, sondern aus politischen und
wirtschaftlichen, also aus Gründen des Klassenkampfes." Die rote
Sportinternationale schlug folgerichtig auch vor, "im Betrieb alle Kräfte
der Arbeiter zu mobilisieren, um mit ihrer Hilfe die Gründung von
Werksportvereinen unmöglich zu machen"(Pfister).

Auch die sozialdemokratischen ArbeiterInnensportvereine konnten sich mit dem
Betriebssport, hinter dem die Ideologie der Werksgemeinschaft stand, nicht
anfreunden, da er darauf abziele, "das Klassenwollen der Proletarier
abzufangen, mattzusetzen". Der Reichsverband der deutschen
Firmensportvereine machte aus seinen eigentlichen Motiven, die mittels des
Betriebssports verwirklicht werden sollten, auch gar keinen Hehl.
Charakterbildung wurde neben der Gesundheitsförderung zum obersten Ziel
erklärt. Sport sollte laut der Richtlinien des Reichsverbandes ein
"Gegengewicht gegen die entseelte Arbeitsmechanik" sein, die "entnervenden
Unterhaltungsstätten" bekämpfen, "parteipolitische Beeinflussung" verhindern
und insgesamt "die deutsche Wirtschaft durch Stärkung und Erhaltung ihres
wertvollsten Gutes, der deutschen Arbeitnehmerschaft" unterstützen
(Pfister).

Spielt die politisch-ideologische Intention im Sport heute noch eine Rolle?

Der Arbeitersportbewegung ist im wahrsten Sinne des Wortes die Luft
ausgegangen. Zwar existiert der ASKÖ als sozialdemokratisch organisierter
Sportverein nach wie vor, seine Bedeutung als (Klassen-)Bewusstsein stiftende
Institution hat er indes zweifelsohne verloren. In gleicher Weise hat die
genuin bürgerliche Sportbewegung – in Österreich in Form der UNION – ihre
Relevanz eingebüßt. Diese scheinbare Entideologisierung des Sports ist
allerdings trügerisch, denn tatsächlich haben sich nur die
Vermittlungsebenen verschoben.

Das Dilemma der UnternehmerInnen liegt darin, dass sie durch den tendenziellen
Fall der Profitrate gezwungen sind, die dadurch entstehenden Verluste durch
die Erhöhung des relativen Mehrwerts auszugleichen, respektive die Ware
Arbeitskraft noch mehr auszupressen, um ihre Profite abzusichern. Da
Maschinen bekanntlich keine "Werte" produzieren, sondern als fixes Kapital
eine notwendige Investition darstellen, um das
gesellschaftlich-durchschnittliche Produktivitätsniveau halten zu können,
obliegt es den Arbeitskräften, die für die UnternehmerInnen notwendigen Mehrwerte
zu schaffen. Und das "Mehr-" wird eben immer mehr!

Um das Ziel, die ArbeiterInnen zu noch höherer Produktivität anzutreiben, zu
erreichen, bieten die UnternehmerInnen und ManagerInnen ungeahnte Potentiale an
Kreativität auf. Selbstverantwortung und Selbstmanagement lauten die Gebote
der Stunde, die ArbeiterInnen sollen ein bisschen "unternehmerischer" denken,
heißt es. Zu diesem Zweck ist man auch auf den Gedanken gekommen, den
ArbeiterInnen "Nachhilfe" in effektiver Freizeitgestaltung zu geben: in der Form
des Betriebssports. "Dabei wird nicht das Ziel verfolgt, die Mitarbeiter
auch während der Freizeit "im Griff' zu haben, sondern hierbei handelt es
sich um eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe", meint die
Sportwissenschaftlerin Michaela Friesacher (Michaela Friesacher,
Psychosoziale und wirtschaftliche Aspekte des Betriebssports, Diplomarbeit,
Wien 1994). Im zweiten Punkt ist Friesacher durchaus recht zu geben,
tatsächlich ist die Sicherung der Reproduktionskraft der (Mit-)ArbeiterInnen als
eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe im Rahmen des Kapitalismus
anzusehen. Im ersten Punkt outet sie sich jedoch als billige Ideologin des
Kapitalismus.

Vorreiter in der betriebswirtschaftlichen Nutzung von Sport ist
bezeichnenderweise die USA. In den USA wird Fitness als außerfachliches
Qualifikationsmerkmal gesehen, so wird oft bei Vorstellungsgesprächen die
Einstellung zur Gesundheit und Fitness festgehalten. Immer mehr
amerikanische Unternehmen honorieren das Gesundheitsbewusstsein ihrer
Mitarbeiter durch Prämien und Lohnzulagen oder kassieren von Übergewichtigen
und RaucherInnen.(Naisbitt/Aburdene, Megatrends des Arbeitsplatzes, München
1989) "Untermalt" werden diese Strategien zur Förderung des
Sportbewusstseins durch das "Wellness-Konzept", die
Corporate-Fitness-Bewegung und durch die Gesundheitsprogramme der
American-Health-Association (AHA). Dass das Konzept aufgegangen ist,
bestätigt die Mortalitätsstatistik "im Großen" und Untersuchungen über die
Wirtschaftlichkeitseffekte betrieblicher "Recreation-Programmes" "im
Kleinen".

* "Internationale Mortalitätsvergleiche verdeutlichen, dass die
Sterblichkeit (Gestorbene/100 000Lebende) an Herzkrankheiten gemäß
ICD-Klassifikation in den USA im Vergleich zu Deutschland seit beginn der
70er Jahre sowohl bei Männern, als auch bei Frauen in der Altersklasse 45-54
Jahre, 55-64 Jahre und 65-74 Jahre deutlich stärker zurückgegangen ist."
(Friesacher)

* Ein Jahr nach der Einführung eines Gesundheits- und Fitnessprogramms in
einem amerikanischen Unternehmen konnte eine massive
Gesundheitskostenreduzierung und eine deutliche Senkung der Abwesenheitsrate
festgestellt werden.

Die Einsicht, dass "gesunde Mitarbeiterinnen und gesunde Mitarbeiter die
Grundlage für ein gesundes Unternehmen (sind)" (O-Ton
Zentralbetriebsratsvorsitzenden Erich Reisinger und
Angestelltenbetriebsratvorsitzenden Ludwig Ecker, beide von der Neusiedler
AG) und dass sich Gesundheits- und Sportförderung betriebswirtschaftlich
rentiert, ist mittlerweile bis nach Österreich durchgedrungen. Und auch
Franz Viehböck hat es schon immer gewusst: "Gott sei Dank gehört die
Einstellung, dass Sport und Wirtschaft Gegensätze sind, der Vergangenheit
an", freut sich der Ex-Astronaut und Boing-Beauftragte in Österreich. Denn:
"Ein Manager ohne Gesundheitsbewusstsein wird nicht die optimale Leistung zu
bringen imstande sein, ein Sportbetrieb ohne wirtschaftliche Führung wird
scheitern." Für die Neusiedler AG machte sich diese "Erkenntnis", bzw. die
daraus folgende Gesundheitsförderung (in Form von "Gesundheitstagen",
"Gesundheitschecks" etc.) durchaus bezahlt: die Krankenstände sind durch
diese Maßnahmen gegenüber 1999 um 12 Prozent gesunken. Das entspricht einer
Senkung der Krankenstandstage von etwa 18.000 auf 16.000 oder einer
Einsparung von ATS 5,2 Millionen an Kosten. (Kompetenz Nr7-8/2001, 9.Juli
2001, 8.Jahrgang)

Warum der Laufboom nicht vom Himmel gefallen ist…

Der Laufsport boomt. Zig-Tausende Menschen quälen sich freiwillig über 42,195 km
lange Asphaltstrassen in stinkenden Großstädten – und zahlen dafür noch
"teures Geld"! In den frühen Morgen – und späten Abendstunden sind die Parks
und Grünflächen überfüllt – wohlgemerkt nicht mit SpaziergängerInnen und ihren
Hunderl, sondern mit LäuferInnen. Der grassierende Laufboom hat dazu geführt,
dass 1,7 Mio. ÖsterreicherInnen zumindest alle paar Wochen die Laufschuhe
schnüren und 860.000 Menschen (das sind 13 Prozent der Bevölkerung) sich
zumindest ein Mal wöchentlich laufend betätigen, also zur Kategorie der
regelmäßigen LäuferInnen zuzurechnen sind. Die Zunahme der regelmäßigen
LaufsportlerInnen – von 4% im Jahr 1993 auf die genannten 13% im Jahr 2000,
erweist sich vor dem Hintergrund eines generellen Rückgangs der sportlich
aktiven Menschen als umso bemerkenswerter. Um die (mehr oder weniger)
plötzliche Popularität des Laufens verstehen zu können bedarf es mehr, als
bloß auf die tollen Vermarktungsstrategien der Laufgurus Strunz&Co.
hinzuweisen, die den Leuten versprechen, das Paradies auf Erden zu finden –
wenn sie sich nur die Laufschuhe binden. Laufen macht aus einer Ente einen
Jaguar, Laufen ist die einzige Diät, die ewig hält, Laufen weckt
Körper-Intelligenz,…kräftigt Herz und Muskeln,…entstresst,…macht
Lust,…macht glücklich,…beflügelt die Seele.

Die schnittigen Predigten von Leuten wie Dr.Med. Strunz dürfen jedoch schon
angesichts ihres sprachlich-ästhetischen Werts nicht unbeachtet bleiben.
Strunz versteht es wie kein anderer, die leidlichen Probleme der Menschen zu
erfassen, deren Ernsthaftigkeit zu unterstreichen, um schließlich eine
einfache Antwort zur Lösung derselben zu präsentieren. Zur Veranschaulichung
ein paar Kostproben:

Problembereich Übergewicht: Die Weltgesundheitsorganisation warnt: Eine
chronische Krankheit breitet sich epidemieartig über den ganzen Globus aus,
wuchert über Bäuche, Schenkel und Hüften: Fettsucht.(…) Die Pfunde im
Überfluss raffen jedes Jahr 300000 Amerikaner dahin, kosten deutsche
Krankenkassen 30 Milliarden Mark.(…)Pro Pfund Übergewicht sinkt das
Jahreseinkommen amerikanischer Führungskräfte um 1000 Dollar. Dynamisch und
schlank hat ein Unternehmer zu sein, so eine US-Studie." (U.Strunz, Forever
young, München 1999)

Die Lösung: Aktivität statt Wunderpille. Gegen die Invasion der Pfunde müsse
man schon aktiv werden, meint Strunz – nicht ohne auf die "Vorbildwirkung"
von Außenminister Fischer hinzuweisen, der seinen 32 Kilo Übergewicht
schlicht und einfach davonlief. ("Wie sie das machen können, lesen sie ab
Seite 52.")

Auch wenn es zunächst nicht so scheint: Hinter Strunz steckt mehr als seine
Gesundheitspredigten und sein grenzdebiles Grinsen vermuten lässt. In
Wirklichkeit verkörpert er den Inbegriff der bürgerlichen
individualistischen Ideologie. Er profiliert sich als stumpfsinniger
Handlanger der Bourgeoisie, indem er alle Probleme, die durch die
Widersprüche des Kapitalismus bedingt sind, den Individuen in die
(Lauf-)Schuhe schiebt. Ob Lohnsklave oder Großbourgeois, jeder hat für sein
eigenes Glück zu sorgen und ist für sein Wohlergehen selbst verantwortlich.

Der Laufboom ist weder dadurch entstanden, dass irgend jemand zufällig auf
die positiven Wirkungen des Laufsports gestoßen ist und daran die Idee
geknüpft hat, damit alle Menschen zu beglücken; noch hat sich das Laufen
gleichsam von selbst und automatisch durchgesetzt. Vielmehr waren es die
sozioökonomischen Bedingungen – Stichwort: "Zivilisationskrankheiten" –
welche das Bewusstsein geweckt haben, dass etwas getan werden muss, damit
der kapitalistischen Produktionsweise nicht der Saft ausgeht. Denn:
Irgendwann stoßen auch die besten Führungskräfte mit ihren Kommunikations-
und Organisationsqualitäten an die Grenzen des "Machbaren"; und spätestens
dann macht sich die Einsicht breit, dass selbst einfache Beschäftigte ein
Mindestmass an Lebensqualität brauchen (und nicht nur fiktive Anerkennung),
um den heiß begehrten Mehrwert schaffen zu können.

Am Anfang (des Laufbooms) standen infolgedessen weder die Wünsche der
SportartikelherstellerInnen, noch die Ideen der Laufgurus – auch wenn Zweiteres
gerne in diversen Zeitschriften und Zeitungen dargestellt wird: Die
Popularisierung des Laufsports darf nicht als linearer Prozess angesehen
werden, bei dem ein konkreter Ausgangspunkt festgemacht werden kann. Eine
zündende Idee ist immer schon mit den materiellen Gegebenheiten vermittelt,
indem sie sich als eine Antwort auf die ökonomischen Notwendigkeiten und
gesellschaftlichen Bedürfnisse erweist. Bei dieser Idee handelt es sich
wohlgemerkt nicht um ein bloßes Abbild der materiellen Gegebenheiten – in
diesem Falle gäbe es nur eine einzige Antwort. Die Idee muss weiters
natürlich im Zusammenhang mit ihrem Produzenten, der bestimmte Interessen
verfolgt, betrachtet werden, wobei der Ursprung dieser Interessen wiederum
nicht im Subjekt allein verortet werden kann.

Laufen im Kontext des Betriebssports

Welche Rolle spielt das Laufen bei den Versuchen der UnternehmerInnen, ihre
Mitarbeiter zu Höchstleistungen anzutreiben? Und warum eignet sich gerade
der Laufsport so hervorragend dazu, das "selbstbestimmte
Leistungsbewusstsein" anzukurbeln?

In aktuellen Studien wird bestätigt, dass Läufer bei der Arbeit "signifikant
zufriedener" sind und "über eine größere betriebliche Arbeitszufriedenheit"
verfügen. Mitarbeiter in Unternehmen, die in ihrer Freizeit Ausdauersport
(Langstreckenlauf) durchführen, halten sich für belastbarer und
konzentrationsfähiger als NichtsportlerInnen. LäuferInnen sehen ihre berufliche
Leistungsfähigkeit durch den Ausdauersport deutlich gestärkt. Sie zeigen
zudem eine verbesserte Kooperationsfähigkeit und Kollegialität. (Eppinger)

Die "Vorzüge" des Laufens:

* Die Läuferin / der Läufer kann ihre / seine Laufumgebung frei wählen und seine Laufstrecke individuell gestalten. Die räumliche Unabhängigkeit macht von
Veranstaltern – ob kommerziell oder gemeinnützig – und deren Vorgaben
unabhängig: Spontane Entschlüsse sind jederzeit möglich. Was dabei
suggeriert wird: Man braucht keine freiheitsbeschränkenden Institutionen.

* Die zeitliche Unabhängigkeit für Beginn und Ende des Sporttreibens ist
eine ungeheure Motivation "dran" zu bleiben. Die Zeitsouveränität wird zum
Hauptfaktor für die Entscheidung. An dieser Stelle drängt sich der Vergleich
mit der sogenannten just-in-time-production auf. Im Gegensatz zur
just-in-case-production der fordistischen Großfabriken, die mit den riesigen
gefüllten Lagerhallen für alle Fälle gerüstet sind, beruht die
just-in-time-production auf einer präzisen Abfolge von Teilanfertigungen und
exakter Zeiteffizienz.

* Die Rücksichtnahme auf andere ist kaum notwendig. "Ich" laufe gegen meinen
inneren Schweinehund an. LaufpartnerInnen stören nicht, sie sind aber nicht
Voraussetzung für meine Selbstbestätigung. D.h. trotz der dominanten
individuellen Komponente, die dem Laufsport unanzweifelbar anhängt, wird
unter den LäuferInnen kein übertriebener Konkurrenzkampf angestachelt – die
"Teamfähigkeit" ist somit nicht bedroht!

* Laufen kann im Prinzip jeder. Unter den LäuferInnen existieren keine sozialen
Staffelungen oder Hierarchien. Dadurch wird das Gefühl der
(Chancen-)Gleichheit erzeugt. Die "One-family-Philosophie", die gegenüber
der autoritär-hierarchischen Unternehmensführung auf Teamarbeit setzt, fährt
auf derselben Schiene: sie täuscht den ArbeiterInnen und insbesondere
Angestellten gleiche Rechte vor, um ihnen zusätzliche Pflichten auferlegen zu
können.

* Den LäuferInnen werden keine (Spiel-)Regeln oder Vorgaben gemacht, an die sie
sich zu halten haben – eine gute Vorübung für die Arbeit. Denn: Auch im
Betrieb soll sich das Leistungsbewusstsein nicht darin erschöpfen, bloß
zuverlässig Anweisungen auszuführen. Eigener Antrieb und persönlicher Elan
ist gefragt

* Der "Massensport" Laufen trägt einen ganz ambivalenten Charakter: Trotz
seiner breitensportlichen Wirkung hat er sich seinen individuellen
"besonderen" Charakter des "Managersports" bewahrt. Von Bill Clinton über
Großkapitalist Martin Bartenstein bis hin zur Sekretärin von nebenan: Sie
alle laufen. Die Studie des Bundesministeriums für Soziale Sicherheit und
Generationen liefert zu diesem Thema ein paar interessante Details: "Je
größer die Bedeutung der individuellen Leistung im Sport ist, umso höher ist
der soziale Status der Ausübenden; Mannschaftssportarten werden häufiger von
unteren Sozialschichten ausgeübt." Und weiter: "Während Mitglieder oberer
Sozialschichten eher Sportarten betreiben, die einen geringen oder gar
keinen Körperkontakt erforderlich machen, ist die Schichtzugehörigkeit der
Sporttreibenden umso niedriger, je stärker ein Sport Körperkontakt
erfordert."( Sport und Gesundheit – eine sozio-ökonomische Analyse) Diesen
beiden Aspekten zur Folge ist der Laufsport tendenziell den oberen
Sozialschichten zuzuordnen.

Ein neuer Trend in Österreich: Firmenläufe

Die unvergleichlichen Vorzüge des Laufens sind von einigen österreichischen
Unternehmen nicht unerkannt geblieben. "Laufen ist in. Laufen und business
sind mega-in. Erkannt hat das eine Truppe ambitionierter FreizeitsportlerInnen
und den 1. Firmenlauf Österreichs veranstaltet. Kollektives Laufen liegt im
Trend. Gesundheitstreffs, Stadt- und Firmenläufe boomen wie nie zuvor",
schreibt der Freizeit-Kurier. Und das profil sieht gar einen "neuen Stern am
heimischen Läuferhimmel in Form von Firmenläufen aufgegangen". (profil Nr.20
(14.5.2001) Das Wirtschaftsblatt schreibt unter der Schlagzeile "Manager am
Laufband": "Laufen ist der Renner der Saison: immer mehr Manager schlüpfen
in die Laufschuhe, um sich den entspannenden Kick beim Jogging zu
holen (…). Der Firmenlauf am 30.August könnte sich nach dem Marathon zum
zweitgrößten Laufevent pushen. Bereits jetzt sind rund 400 Teams
angemeldet – also 1200 Leute, da drei Leute eine Mannschaft bilden."
(Wirtschaftsblatt (17.5.2001) Ingesamt werden etwa 8000 laufbegeisterte
ManagerInnen und ihre MitarbeiterInnen erwartet. "Das sportliche Miteinander, der
Teamgeist, steht bei solchen Laufevents im Vordergrund, Profilierungslust
ist (gerade deshalb) nicht ausgeschlossen. Die moderaten Distanzen
orientieren sich – ähnlich wie bei Frauenläufen – an den sportlich weniger
Trainierten" – informiert das profil. Das gemeinsame Laufen soll die
Motivation der MitarbeiterInnen heben, das Betriebsklima verbessern und das
Zugehörigkeitsgefühl zur Firma stärken. "Daher ist es nicht nur erlaubt,
sondern sogar erwünscht, erkenntlich als Unternehmen nach außen
aufzutreten." (Laufsport 06/01) (Wenn das nicht die Ideologie der
Werksgemeinschaft in Reinkultur ist!)

Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass der Erfolg oder Nicht-Erfolg eines
Unternehmens weniger auf der Straße, unmittelbar im sportlichen Wettkampf
gemessen wird, sondern schon Wochen vorher, im so genannten
Unternehmensranking. In regelmäßigen Abständen informieren die Medien
darüber, welches Unternehmen beim Betriebslauf mit wie vielen Managern und
Mitarbeitern vertreten ist (ein Manager "zählt" übrigens genauso viel wie
ein "gewöhnlicher" Arbeiter). Entsprechend der Zahl seiner TeilnehmerInnen nimmt
das Unternehmen einen Platz in einem eigenen Ranking ein. Bezeichnend dafür
ist auch die Tatsache, dass die Preise nicht gemäß der erbrachten Leistung
verliehen werden, sondern nach dem Lauf verlost werden.

Zu guter Letzt die eigentliche Fragestellung…

Ideologie hin oder her, könnte man sagen – Sport, konkret das Laufen, hat
nachweisbar positive Auswirkungen auf das körperliche und geistige
Wohlbefinden der Menschen. Den Leuten geht es schlecht, sie laufen, und es
geht ihnen besser. Eine einfache kausale Wirkung, gegen die doch wohl
sachlich betrachtet niemand sein kann, so scheint es zumindest. Könnte man
daraus nun nicht schlussfolgern, dass im Falle des Laufens exzessives
Marketing, (wie es etwa von Struntz betrieben wird), der Menschheit
ausnahmsweise gute Dienste leistet. Im Gegensatz zur Bewerbung des
so genannten "functional food", wo den Leuten krude Versprechungen
aufgetischt werden – etwa dass der lactobazillus casei im Joghurt für gutes
Aussehen, für Ausgeglichenheit, für die Stärkung der Abwehrkräfte und noch
vieles mehr sorgt, fördert Laufen ja tatsächlich das Wohlbefinden.

Klarerweise würden wir uns eine von der Kommerzialisierung der
kapitalistischen Freizeitindustrie unabhängige Massenkultur wünschen –
vorzugsweise in Verbindung mit einer revolutionären Arbeiterbewegung.
Angesichts der aktuellen Schwäche einer solchen Bewegung ist heute eine
partielle Beteiligung an verschiedenen Formen der kapitalistischen
Massenkultur tendenziell notwendig, um sich in dieser Gesellschaft nicht
sozial zu isolieren und psychisch zugrunde zu gehen.

In der plattesten Form verdeutlichen sich die Interessen der
Sportartikelindustrie an der "Freude am Laufen": "Der wirkliche Laufboom
spielt sich im Sportartikelhandel ab", weiß Johannes Langer, u.a. Rennleiter
beim Vienna City Marathon und Chefredakteur beim Laufmagazin Running – und
freut sich, dass nachdem jahrelang die Umsatzsteigerungen nicht mit dem
Flächenwachstum mithalten konnten – in einigen Jahren sogar rückläufig
waren – der Sportartikelhandel in den letzten zwei Jahren ein dickes
Umsatzplus verbuchte.(Running Nr.3/2001) Dazu einige Fakten: 

* Der Gesamtumsatz des österreichischen Sportartikelfachhandels belief sich
im Jahr 2000 auf ca.15 Milliarden. Die Umsatzsteigerung von ca. 10 Prozent
hing zu einem großen Teil mit dem Wachstum im Segment Laufsport zusammen.

* Das Segment Laufen stieg im Jahr 2000 um satte 34 Prozent auf einen
Gesamtumsatz von über drei Milliarden Schilling. Für das Jahr 2001
erwarteten die Wirtschaftsbeobachter einen ähnlichen Zuwachs.

Die Sportartikelhersteller – von Nike über Adidas bis zu Saucony sind sich
jedenfalls darüber einig, dass das Geschäft mit dem Laufen nicht so schnell
abflauen und noch für fette Gewinne sorgen wird.

Auch wenn meines Erachtens nach im Falle des aktuellen Laufbooms der
Sportartikelindustrie die Rolle des treibenden Motors zukommt, darf sie
nicht als der eigentliche Drahtzieher angesehen werden – die Gründe für
dessen Entstehen sind viel komplexer. Warum?

Wie zuvor angesprochen hat man mit dem Sport einst klare politische
Intentionen verfolgt. Heute können diese Intentionen nicht mehr so einfach
nachvollzogen werden, was viele zu der Behauptung veranlasst hat, das
Politische sei am Ende und endgültig von der Dominanz der Ökonomie abgelöst
worden. Damit sei auch das Private, das einst politisch werden sollte, nun
ökonomisch geworden. Diese Theorie ist mit Vorsicht zu betrachten. Denn was
wird mit der Reduktion auf das Ökonomische suggeriert? Das Private,
respektive die sportliche Freizeitbetätigung richtet sich demzufolge nach
genuin ökonomischen "Sachzwängen" aus, die eben "sachlich" und nicht
ideologisch sind. Ideologie wäre damit mehr oder weniger obsolet geworden,
da der Markt ohnehin alles regelt.

Diese Sichtweise geht von einer grundfalschen Prämisse aus: von der
Prämisse, die Geschichte habe in der jetzigen Stufe des Kapitalismus ihr
Ende erreicht. D.h. die kapitalistische Produktionsweise bildet ein Axiom,
das nicht zu übersteigen ist. Wenn man diese Annahme voraussetzt, erscheint
der Großteil der Menschen als LohnarbeiterInnen auf der einen und als KonsumentInnen
von – in kapitalistischer Produktionsweise erzeugter – Waren auf der anderen
Seite. Jeder und jede ist gleichermaßen Objekt und Subjekt der
kapitalistischen Ökonomie, und kann sich folglich nicht heraus bewegen.
Folgt man dieser Logik, dient Ideologie dann nur noch zur Verbesserung der
Kommunikation und Interaktion zwischen den Menschen, da ja ohnehin keine
Ausbeutung im traditionellen Sinn mehr besteht, die verschleiert werden
muss, da sich jeder irgendwie selbst ausbeutet.

Die tätig-aktive widerständige Seite des Menschen, die im Kapitalismus der
"ideologischen Befriedung" "bedarf", wird in dieser Theorie vollkommen
eliminiert. Wenn es diese Seite nicht gebe, hätte der Kapitalismus
tatsächlich kein Problem. Der Haken an der Sache: Wenn es diese Seite nicht
gebe, gebe es auch den Kapitalismus nicht. Denn: Wie hätte er den
Feudalismus ablösen können? Langer Rede kurzer Sinn: Die kapitalistische
Ökonomie könnte ohne massive ideologische Propaganda nicht überleben. Nur
haben die verschiedenen ideologischen Botschaften mittlerweile derartig
subtile Formen angenommen, dass sie auf den ersten Blick nicht eindeutig
erkennbar sind. Der Laufboom kann deshalb mit ökonomischen Argumenten nicht
hinreichend erklärt werden.