“Der Sozialismus wäre eine gute Idee, aber er wird nicht funktionieren.” Das wohl häufigste aller Argumente gegen Sozialismus ist in unzähligen Varianten anzutreffen. Obwohl die Idee eines grundlegenden Makels im Wesen des Menschen, der eine Veränderung der Gesellschaft unmöglich macht, einer wissenschaftlichen Betrachtung nicht stand hält, ist sie der bevorzugte Einwand von PolitikerInnen, Intellektuellen und linken ReformistInnen.
Zuerst gilt es, die Ursachen für das Aufkommen dieser Behauptung zu klären. Natürlich sehen wir tagtäglich Menschen, die sich auf eine Art und Weise verhalten, die für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft sehr hinderlich wäre; wir werden mit Rassismus, rücksichtslosem Machtstreben und eklatantem Sexismus konfrontiert.
Obwohl auch gegenteilige Verhaltensweisen zu finden sind fallen diese in der Regel der selektiven Wahrnehmung zum Opfer. Das Engagement von Menschen, die sich ehrenamtlich Tätigkeiten wie der Betreuung von Behinderten oder Kranken widmen oder auch die Bereitschaft, große Geldsummen für gemeinnützige Projekte und Aktionen zu spenden, sprechen jedoch eindeutig für die Fähigkeit des Menschen zu solidarischem und sozialem Verhalten.
Nun könnte behauptet werden, dass die negativen Eigenschaften des Menschen von seiner Natur diktiert würden und damit unabänderlich seien. Eine Betrachtung der Geschichte zeigt jedoch, dass Menschen nicht zu jeder Zeit und nicht in allen Gesellschaften einer geschichtlichen Epoche die selben Verhaltensweisen an den Tag gelegt haben. So hat beispielsweise der patriarchale Aufbau der Gesellschaft, der in Europa als eine natürliche Gegebenheit von den meisten akzeptiert wird, keinerlei geschichtliche Allgemeingültigkeit. Auch an unzähligen anderen Beispielen wie der Haltung zur Homosexualität oder zum Konsum bestimmter Drogen zeigt sich diese Wandelbarkeit des menschlichen Wesens deutlich.
Ursache der immer wieder – oft sehr plötzlich – auftretenden Veränderung des Verhaltens der Menschen einer Gesellschaft, sind Veränderungen ihrer ökonomischen oder ideologischen Rahmenbedingungen. Das gesellschaftliche “Sein” formt also das menschliche Bewußtsein und bedingt so Werte und Verhalten.
In der kapitalistischen Gesellschaft, in der Menschen zu Konkurrenzdenken angehalten werden und sich in einen hierarchischen Apparat eingliedern müssen entstehen die Verhaltensweisen, die von Kriti-kerInnen des Sozialismus gerne als Beweis für die Unmöglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft herangezogen werden.
Machtstreben?
Auch das menschliche Machtstreben, das nur allzu gerne einer obskuren Natürlichkeit zugeschrieben wird ist ein Produkt unserer Umwelt. Im konkurrenzorientierten Kapitalismus ist das erreichen von materiellem Wohlstand nur im Widerspruch zu den Interessen anderer möglich. Im privaten Bereich wird dieses Verhalten repliziert und spiegelt sich in den meisten Lebensbereichen, vor allem in Beziehungen zwischen Männern und Frauen und im Sexualleben wieder. In Wahrheit beweist eben dieses Ausmaß an unsozialem Verhalten, an Gewalttätigkeit und Unterdrückung wie notwendig eine Veränderung der Rahmenbedingungen durch Überwindung des Kapitalismus geworden ist.
Mit der Feststellung, der Mensch sei durch seine Umgebung formbar, entsteht mitunter das Bild eines kontrollierbaren und durch den jeweiligen Machthaber beliebig manipulierbaren Menschen, der als Marionette der gesellschaftlichen Beeinflussung zu allem befähigt ist. Dieses Bild deckt sich nicht mit der Tatsache, dass selbst unter Bedingungen extremster Unfreiheit Menschen Protest erheben und für ihre Vorstellungen kämpfen. Offenbar gibt es also doch einen Teil des menschlichen Verhaltens, der durch den biologischen Aufbau, das physiologische Wesen des Menschen, bestimmt wird. Die Grenze, ab der Menschen sich zum Aufstand erheben, ist in der Regel spätestens dann erreicht, wenn die Grundbedürfnisse von Menschen nach Nahrung oder Schutz nicht mehr befriedigt werden können.
Diese Bedürfnisse sind allen Individuen der menschlichen Art gemein und ergeben sich aus ihren gleichen genetischen Grundlagen; Grundbedürfnisse, wie jenes nach Nahrung, sind daher nicht sozialisiert. Eine weitere wichtige durch das menschliche Erbgut determinierte (vorherbestimmte) Eigenheit ist das Bilden von Gruppen zur Befriedigung gemeinsamer Bedürfnisse. Zu jeder Zeit haben Menschen in Gruppen und nicht als Einzelgänger gelebt.
Im Unterschied zu anderen sozialen Arten sind die menschlichen Arbeitstechniken nicht hauptsächlich instinktiv sondern erlernt und konnten schon sehr früh über die Sprache weitergegeben werden. Die gesellschaftliche Arbeit des Menschen ist somit ein dynamisches Element seiner Natur, dessen Charakter sich durch Entwicklung neuer Praktiken und Werkzeuge verändert und weiterentwickelt.
Durch diese Veränderung der Produktionsweise formt der Mensch seine Umgebung und sein gesellschaftliches Sein, das auf seine Werte und Ansichten rückwirkt. So hat die Entwicklung der Dampfmaschine zur Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus geführt, der, geht man von der grundsätzlichen Klassenstruktur aus, bis heute Bestand hat. Die Entwicklung des Kapitalismus bedingte weiters die Herausbildung des Proletariats, das die Basis für die Beseitigung der kapitalistischen Wirt-schaftsweise bildet.
Die Veränderlichkeit der menschlichen Natur ist demnach kein utopistisches Konstrukt, sie ist eine der grundlegenden Eigenheiten unserer Art.