60 Jahre NATO: Geburtstag eines Aggressors

Am 3. und 4. April 2009 feiert die NATO in Strasbourg und Baden-Baden ihr 60-jähriges Gründungsjubiläum. Mehr als ein halbes Jahrhundert Frieden wird sich der Nordatlantikpakt auf seine Fahnen schreiben. Aber in der Realität war die NATO etwas anderes – sie war und ist der bewaffnete Arm des Imperialismus der westlichen Hemisphäre. Wir beleuchten in diesem Artikel ihre Geschichte und ihre Mutation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von einer dem Kalten Krieg verpflichteten militärischen Agentur der USA und ihrer europäischen Verbündeten zu einem global agierenden Interventionsinstrument der zentralen imperialistischen Mächte zum Schutz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die westlichen Alliierten hatten den Sieg über ihre imperialistischen Rivalen Deutschland und Japan errungen – mit Hilfe der Sowjetunion im Zeichen einer klassen- und systemübergreifenden „Anti-Hitler-Koalition“. Die stalinistische Bürokratie verbreitete dabei Illusionen, dass diese Zusammenarbeit mit den kapitalistischen Gegnern Hitlers längerfristig aufrechterhalten werden könnte. Der österreichische KPÖ-Parteiführer Johann Koplenig sprach ganz im Sinne dieser Politik von einer „Zusammenarbeit der demokratischen Parteien“, die „nicht nur eine vorübergehende und durch die Kriegsumstände bedingte Notwendigkeit“ sei, sondern eine entscheidende Vorbedingung für die friedliche  Entwicklung insgesamt wäre. 

Dieser Zusammenarbeit diente auch die Abgrenzung von Einflussgebieten, die von der Sowjetunion auch peinlich genau eingehalten wurde: So etwa verzichtete die UdSSR auf eine Unterstützung der griechischen Revolution und überließ die Arbeiter/innen/bewegung Griechenlands der bewaffneten britischen Konterrevolution – Griechenland war eben Teil der Einflusssphäre Großbritanniens. Die Hoffnungen der Kreml-Bürokratie auf eine längerfristige Absicherung dieser Zusammenarbeit erfüllten sich trotz aller Vorleistungen nicht: Bereits wenige Jahre nach 1945 wurden die Widersprüche zwischen der Sowjetunion einerseits und ihren ehemaligen westlichen Alliierten andererseits offenkundig.

Die NATO bis 1989

Mit dem Brüsseler Vertrag vom 17. März 1948 schlossen sich unter US-amerikanischer Schirmherrschaft die westeuropäischen imperialistischen Länder Frankreich, Großbritannien und die Benelux-Staaten Belgien, Niederlande und Luxemburg zu einem Bündnis der „kollektiven Selbstverteidigung“ zusammen. Mit dem Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949 garantierten sich die USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, die Benelux-Staaten, Portugal, Norwegen, Italien, Dänemark, Island und Portugal gegenseitig im Falle eines Krieges beizustehen. Mit Artikel 5 des Vertragswerks, dem bei weitem wichtigstem Paragraphen, wurde der „Bündnisfall“ definiert: „Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“

Die 1949 gegründete NATO versteckte von Anfang an ihre Ziele hinter der rhetorischen Floskel der „Verteidigung des Westens und der Demokratie“ gegen den „aggressiven Kommunismus“. Mit großem propagandistischem Eifer wurden die Berlin-Blockade, der Korea-Krieg und die Zündung der ersten sowjetischen Atombombe vermarktet. Dabei war die NATO von Beginn an ein der Blockkonfrontation verpflichtetes aggressives Militärbündnis der entscheidenden imperialistischen Mächte, wie die verschiedenen strategischen Konzeptionen belegen. 1950 wurde vom NATO-Rat die „Forward Strategy“ verabschiedet, die „Vorwärts-Strategie“ oder „Vorneverteidigung“, die jeden potenziellen Angriff der UdSSR durch möglichst umfassende Operationen weit im Feindesland vereiteln sollte. 1952 wurde im Zeichen des Kalten Krieges diese Angriffsplanung zur „Strategie der Massiven Vergeltung“ verdichtet und ausdrücklich auch mit dem Einsatz von Atomwaffen verbunden: Jede abgefeuerte sowjetische Rakete sollte mit dem Abschuss einer vielfachen Vernichtungskapazität beantwortet werden.

Dieses Bündnis der imperialistischen Zentren Westeuropas und Nordamerikas zur Aufrechterhaltung ihrer Klassenherrschaft wurde 1952 um Griechenland und die Türkei und 1955 um die Bundesrepublik Deutschland erweitert, 1982 kam es mit dem Beitritt Spaniens zur letzten Erweiterung des Nordatlantik-Paktes vor dem Zusammenbruch der UdSSR und der Auflösung des Warschauer Vertrages. Dem Beitritt der BRD kam in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Mit den Pariser Verträgen war Westdeutschland im Oktober 1954 zur Mitgliedschaft eingeladen worden. Sie wurde am 6. Mai 1955 wirksam und führte die NATO in Mitteleuropa direkt an die Grenze des sowjetischen Machtbereichs heran. Die UdSSR antwortete darauf zwei Wochen später mit der Gründung des Warschauer Vertrages, aber auch mit der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages, um mit der österreichischen Neutralität ein Gegenkonzept zur Integration Westdeutschlands in die militärischen Strukturen des Nordatlantikpaktes zu präsentieren. 

Mit dem faktischen Nachgeben der UdSSR unter Chruschtschow in der Kubakrise wurde der Weg für eine Adaption  der NATO-Strategien frei: Der sowjetischen Konzeptionen der friedlichen Koexistenz von Kapitalismus und „Sozialismus“ folgte um 1967 eine Rücknahme der „Strategie der Massiven Vergeltung“ zugunsten einer Strategie des „flexible Response“, der „abgestuften Reaktion“, im Sinne einer Zwei-Pfeiler-Doktrin – ein positiver Bezug auf die sowjetischen Avancen, die diese mit der Entspannungspolitik machte, sollte kombiniert werden mit einer jederzeitigen Kampfbereitschaft, sowohl mit konventionellen Waffen als auch mit nuklearen Gefechtsköpfen. 1968 wurde im Sinne der „Entspannungspolitik“ eine beiderseitige Truppenreduzierung vereinbart – eine Politik, die auch durch Aktionen wie den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei (1968) nicht nachhaltig gestört wurde, solange die Einflusssphären nicht grundlegend angetastet wurden.

Ende der 1970er Jahre begannen noch unter der Amtszeit von Jimmy Carter die NATO-Mächte mit dem NATO-Doppelbeschluss (1979) ihre militärischen und ökonomischen Stärken in die Waagschale zu werfen. Gleichzeitig mit Verhandlungsangeboten an die Adresse der UdSSR wurde eine „Nachrüstung“ mit Mittelstreckenraketen beschlossen, um das militärische Gewicht nachhaltig zugunsten des Imperialismus zu verschieben. Der Beschluss zum Bau der Neutronenbombe unter Ronald Reagan war ganz in diese Strategie eingebunden. In der Realität bedeutete das eine systematische Hochrüstungspolitik, mit der der ökonomische schwächere sowjetische Block in die Knie gezwungen werden sollte. Reagan sprach offen von einem „Totrüsten“ der Sowjetunion. Die sowjetische Bürokratie unter Gorbatschow reagierte angesichts dieser Position der Stärke, aus der die NATO heraus operierte, und vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden ökonomischen und politischen Krisen zunehmend hilflos und konnte dem westlichen Bündnis letztlich nichts Gleichwertiges mehr entgegensetzen.

Um aber gleich ein mögliches Missverständnis aufzuklären: Für revolutionäre Sozialist/inn/en liegt im Unterschied zu bürgerlichen Pazifist/inn/en der reaktionäre Charakter der NATO nicht in ihrer wirklichen oder vermeintlichen Aggressivität begründet. Selbst als reines Verteidigungsbündnis, das die NATO natürlich niemals war, wäre deren Charakter nicht anders zu bestimmen. Denn entscheidend ist im Grundsätzlichen, dass die NATO als Militärbündnis der um die USA gruppierten wichtigsten imperialistischen Mächte Symbol und Ausdruck des Würgegriffs um die Sowjetunion war: Die Existenz der NATO diente als Bedrohung und Abschreckung der Sowjetbürokratie und ihrer Satelliten. Und mit ihrem Ziel, die „freie Welt“ vor aller Bedrohung zu schützen, war sie indirekt auch der Garant der Aufrechterhaltung der imperialistischen Herrschaft über die (Halb-) Kolonien, der sich zur Beschränkung des Bewegungsspielraums der (halb-) kolonialen Befreiungsbewegungen, aber auch zur Niederhaltung und Zügelung der Arbeiter/innen/bewegungen der imperialistischen Zentren verpflichtet sah.

Implosion der UdSSR und neue Bedrohungen

Die NATO war seit ihrer Gründung in der öffentlichen Wahrnehmung auf den Kampf gegen die „Hauptbedrohung“ Sowjetunion ausgerichtet gewesen. Und auch in der Realität verfolgte sie mit verschiedenen Mitteln und Strategien in den ersten vier Jahrzehnten ihres Bestehens das Ziel, den Vormarsch des „Kommunismus“ zu begrenzen und diesen wenn möglich auch wieder zurückzudrängen – die Vernichtungskraft der atomaren Mittel reichte immerhin bis zum vielfachen Overkill, des mehrfachen Potenzials zur Vernichtung des menschlichen Lebens auf der Erde.

Das Ziel war aber von Anfang an ein Umfassenderes – es war die Erhaltung und der Ausbau des militärischen Potenzials der imperialistischen Hauptmächte unter der Führung der USA; die Sowjetunion war als „Außenfeind“ das Mittel dazu. Natürlich war die Vorbereitung auf einen Krieg mit der UdSSR niemals das einzige Ziel der NATO-Mitglieder gewesen, die Dutzenden kleineren und größeren Kriege, die von diesen nach 1945 geführt worden waren, sprechen wohl eine deutliche Sprache.

Mit dem Ende der angeblichen „Hauptbedrohung der freien Welt“ entstand die Notwendigkeit für die NATO, sich selbst neu zu definieren und neue, von den wichtigsten Mitgliedern neben den USA auch politisch mitgetragene Strategien zu entwickeln. Im Grunde ist dieser Prozess der Neuausrichtung bis heute nicht völlig abgeschlossen, mit dem Ende der Sowjetunion traten die latenten Widersprüche an die Oberfläche.

Die NATO war als Bündnis mit wechselseitigen Garantien im Falle eines Krieges – vorrangig mit der Sowjetunion – konzipiert. Militärisch reagierte die NATO auf das Ende der bipolaren Welt mit dem Ziel, größere Flexibilität in Außeneinsätzen zu verbinden mit der Aufstellung von Truppen, die für rasche Einsätze in verschiedenen Teilen der Welt einsetzbar sein sollten. Ab Beginn der 1990er Jahre traten die Tendenzen an die Oberfläche, die in der NATO vor allem ein Militärbündnis für „friedenserhaltende Maßnahmen“, also für Kriege zum Schutz der bestehenden Gesellschaftsordnung und ihrer Repräsentant/inn/en, sahen.

Mit dem Gipfel von Rom (November 1991) wurde statt der bisherigen Gefahr aus dem „Osten“ eine neue Quelle der Bedrohung für die Sicherheit der freien Welt definiert: Die Sowjetunion hatte bisher dafür gesorgt, dass die Gefahren einschätzbar waren. Aber neue Bedrohungsszenarien wurden an die Stelle der alten Blockkonfrontation gesetzt: An die Stelle der vom Warschauer Pakt bisher ausgehenden „berechenbaren Gefahr“ seien nun mit der unkontrollierten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, mit dem weltweiten Agieren von Terrornetzwerken und der Unterbrechung von Routen für den Transport wichtiger Rohstoffe „multidirektionale Bedrohungen“ getreten. 1999 wurde die Bedeutung der Sicherung der Rohstoffzufuhr weiter unterstrichen und  als zusätzliche Bedrohung in die NATO-Strategie auch unkontrollierte Migrationsbewegungen aufgenommen. Besonders die Bedeutung, die auf die Sicherung der ungehinderten Rohstoffzufuhr gelegt wurde, war als aggressive Kampfansage konzipiert.

All diesen „multidimensionalen Bedrohungen“ müsste nun – am besten an der Quelle des Unheils – direkt entgegengetreten werden. Das implizierte auch die Bereitschaft der NATO, „Out of Area“-Einsätze durchzuziehen, also z.B. den Westen am Hindukusch zu „verteidigen“, wie es der frühere deutsche Verteidigungsminister Struck (SPD) 2004 so schön für Deutschland formulierte. Das Gewicht der Argumentation verschob sich schrittweise von „friedenserhaltenden“ zu „friedenserzwingenden“ Maßnahmen. Das zerfallende Jugoslawien bot den Raum für den Schritt in die reale Umsetzung der neuen Strategie: 1992 Kontrolle des Waffenembargos gegen Jugoslawien, 1994 Kampfeinsätze der Luftwaffe in Bosnien-Herzegowina, 1995 Übernahme des Kommandos über die IFOR (später SFOR) in Bosnien.

Dass „Out of Area“-Einsätze nur nach Ermächtigungen durch den UNO-Sicherheitsrat bzw. die OSZE durchgeführt werden sollten, wie es 1992, bei Formulierung der neuen Doktrin, noch geheißen hatte, erwies sich schon bald als Beruhigungspille für die Öffentlichkeit und wurde bei erster Gelegenheit über Bord geworfen. Bereits für den Krieg gegen Jugoslawien 1999 hatte keine solche Ermächtigung mehr vorgelegen. Humanitäre Ziele wie der Schutz der kosovarischen Albaner/innen vor Vertreibung und Vernichtung waren vorgeschoben. Der Krieg gegen Jugoslawien war von Anfang an nicht als „Ausnahmefall“ in einer „Ausnahmesituation“ gedacht, sondern das Ziel war die Schaffung eines Präzendenzfalles und eine klare Machtdemonstration: Die NATO werde sich durch nichts und niemanden binden lassen, auch nicht durch ein zahnloses und ohnehin vom Imperialismus definiertes „Völkerrecht“ oder durch ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates, mit dem Russland und China letztlich eine Mitentscheidung über die Legitimität von NATO-Kampfeinsätzen zugestanden würde. (siehe auch unseren Artikel Bilanz der NATO-Aggression gegen Jugoslawien)

Gleichzeitig musste die NATO nach dem Wegfall des traditionellen Feindbildes um eine längerfristige politische Absicherung ihrer Militär- und Aufrüstungspolitik bemüht sein. Dem diente eine Aufwertung der zivilen Strukturen der NATO, etwa der NATO-Gipfeltreffen oder der Parlamentarischen Versammlung.

Ein entscheidendes Element der NATO-Strategie blieb auch nach dem Zerfall der UdSSR die „Ost“-Politik. In zwei Erweiterungsrunden wurde die NATO auf den bisherigen sowjetischen Einflussbereich ausgedehnt – seit 1999 sind Polen, Tschechien und Ungarn Mitglieder, seit 2004 Bulgarien, Rumänien, Slowenien, die Slowakei und mit den baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen auch drei ehemalige Sowjetrepubliken. Mit der Aufnahme von Kroatien und Albanien steht jetzt im April 2009 die nächste kleine Erweiterungsrunde an. Diese Politik der Einschnürung Russlands, wie sie mit den Erweiterungen von 1999 und 2004 zum Ausdruck kam, sollte dessen erneuten Aufstieg zu einem Global Player so weit wie möglich verhindern helfen und wurde ergänzt durch weitere Programme wie PfP, Partnership for Peace, mit denen weitere Länder an die NATO gebunden werden sollten und mit denen vor allem in den ex-sowjetischen Machtbereich vorgedrungen wurde: Mitglieder des PfP-Programmes sind neben den beiden Beitrittskandidaten Albanien und Kroatien die jugoslawischen Nachfolgestaaten Mazedonien, Montenegro, Serbien und Bosnien und Herzegowina, die EU-Länder Finnland, Irland, Malta, Schweden und Österreich, der Sonderfall Schweiz und die UdSSR-Nachfolgestaaten Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan und Weißrussland. Mit der NATO-Ukraine-Charta sicherte die NATO ihren Vorstoß in den politisch sensiblen geografischen Raum der ehemaligen UdSSR weiter ab.

Politisch hat diese Erweiterung einen ungeheuren politischen Effekt auf die betroffenen Länder. Weniger wegen der damit verbundenen Pflicht zur Erhöhung ihres Militäretats und der militärisch-logistischen Konsequenzen, auch wenn z.B. die mit der Integration verbundene Umstellung der militärischen Einrichtungen auf NATO-kompatible Systeme in ihrer langfristigen Wirkung sicher nicht zu unterschätzen ist. Sicher mehr noch ist ein politischer Effekt gegeben. Die NATO-Integration ist das sichtbare Zeichen der einzelnen Länder für deren Zuwendung zum Westen im Zeichen einer Isolierung Russlands.

Die „Bedrohung“ durch die Sowjetunion ist weggefallen, der NATO gelang eine schrittweise Ausdehnung ihres Einflussbereichs bis weit in den Osten. Wie allerdings das Verhältnis zu Russland selbst gestaltet werden sollte, das blieb in den 1990er Jahren (und darüber hinaus) ein politisches Problem für die NATO, an dem sich wie in der Frage des Irak-Krieges die Bruchlinien im Nordatlantikpakt deutlich zeigten. Die NATO widerspiegelt damit nur die in der politisch-ökonomischen Realität sich formierende innerimperialistische Blockbildung vor allem rund um die USA und die deutsch-französische Achse. Die Bush-Administration einerseits und das Duo Schröder-Chirac auf der anderen Seite war der konzentrierte politische Ausdruck dieser unterschiedlichen Strategien, die sich ab den 1990er Jahren zu zeigen begannen und im Irak-Krieg an die Oberfläche traten.

Krise des Bündnisses

Mit ihren neuen strategischen Konzepten schien die NATO den Wegfall ihres traditionellen Konterparts, der Sowjetunion, verarbeitet und sich mit einem Szenario verschiedenartigster Bedrohungen neu legitimiert zu haben. Nach dem Amtsantritt von G.W. Bush aber spitzten sich die Differenzen innerhalb der NATO dramatisch zu und verdichteten sich zu einer ernsthaften Krise des Bündnisses. Mit Bezug auf zu geringe Rüstungsanstrengungen der europäischen Verbündeten leiteten die USA auch für die kommende Periode den alleinigen Führungsanspruch innerhalb des Bündnisses ab, den sie seit Gründung der NATO beansprucht und auch innegehabt hatten.

Einige der europäischen Partner antworteten darauf mit einer Forcierung einer gemeinsamen EU-Außen- und -Sicherheitspolitik. Unter der Führung von Deutschland und Frankreich wurde eine eigenständige Militärpolitik entwickelt, die z.B. mit dem Aufbau einer unabhängig von NATO und USA einsetzbaren EU-Interventionsarmee in Konkurrenz zu NATO-Kontingenten und -Planungen steht. Zugeordnet waren diese Bemühungen dem Ausbau von Elementen eines supranationalen EU-Staates, der als potenzielle Bedrohung für den alleinigen Führungsanspruch der USA gewertet werden musste. Die Differenzen in der NATO waren damit letztendlich nichts anderes als die Verlängerung sich verschärfender innerimperialistischer Widersprüche und Differenzen. Sie wurzelten im Aufstieg der Europäischen Union, mit der die USA nicht gewillt waren, auf der Basis gleichrangiger imperialistischer Räuber zu verhandeln.

Ironischer Weise fiel in diese Periode der einzige „Bündnisfall“ in der Geschichte der NATO. Nach den Anschlägen vom 11.9.2001 wurde dieser ausgerufen, ohne dass allerdings die USA in ihrem „Krieg gegen den Terror“ stärker auf die militärischen Kapazitäten der Verbündeten zurückgegriffen hätten. Unmittelbar vor Beginn des Irak-Krieges nahmen die Differenzen innerhalb der NATO weiter zu, indem die USA nun versuchten, Animositäten innerhalb der EU zu schüren und die EU-Staaten in ein „altes“ und ein „neues“ Europa auseinander zu dividieren. Die von den USA geschmiedete „Koalition der Willigen“ im Krieg gegen den Irak umfasste daher auch folgerichtig nicht die Gesamtheit der NATO-Staaten, sondern stützte sich neben Großbritannien auch auf dieses imaginierte neue Europa. Nicht so sehr die Kampfkraft der von diesem gestellten Truppen war für die US-Administration entscheidend, sondern die politische Tatsache, dass es erfolgreich gelungen war, in einer entscheidenden Frage in einer äußerst sensiblen Weltregion die Europäische Union erfolgreich gespalten, ihre Uneinigkeit und Handlungsunfähigkeit demonstriert und damit den Führungsanspruch der USA erfolgreich unter Beweis gestellt zu haben. (Siehe auch Skizze der internationalen Lage 2004 )

Ebenso gelang es den USA, in der Frage des Umgangs mit Russland einen Keil in die Europäische Union zu treiben. Während Deutschland und Frankreich stärker auf eine Kooperation mit Russland setzten (und dies auch heute tun), konnten die USA erfolgreich in Mittel- und Osteuropa alte Ressentiments gegenüber Russland reaktivieren. Die Militärabkommen der USA für den Aufbau eines in der Realität gegen Russland gerichteten Raketenabwehrschirms in Polen, Ungarn und Tschechien und die Differenzen um den Georgien-Krieg 2008 waren Ausdruck dieses unterschiedlichen Umgangs mit Russland.

Die Differenzen erreichten jedoch niemals eine Qualität, dass sie unumkehrbar geworden wäre und gemeinsame Aufrüstungsanstrengungen verhindert hätte. So konnte 2002 in Prag mit der Entscheidung für die Aufstellung einer weltweit operierenden und in kürzester Frist einsatzbereiten „Schnellen Eingreiftruppe“ ein großer Erfolg erzielt werden. 2003 wurde mit der Übernahme der ISAF-Verantwortung im Afghanistan-Einsatz erstmals ein Krieg der NATO außerhalb Europas geführt und damit im Praxistest eine Verbesserung und Verfeinerung der Methoden zur Aufstandsbekämpfung erreicht. Dies war ein wichtiges Signal, dass es trotz aller Differenzen immer auch ein gemeinsames imperialistisches Interesse gab, Bewegungen wie den Taliban, die sich dem Zugriff des Westens widersetzten und als Störfaktor für die Stabilität einer imperialistischen Weltordnung gesehen wurden, gemeinsam eine Lehre zu erteilen. Denn die „Globalisierung“ hatte nach 1989 nicht dazu geführt, dass die Welt für die Imperialist/inn/en sicherer geworden wäre – im Gegenteil: Die dezentralen Konflikte an vielen Stellen des Globus lassen die Risiken für die Ausbeutung von Menschen und Bodenschätzen nicht geringer werden. Daher rührt auch das massive Interesse, die durch unkontrollierbare Bewegungen und „Schurkenstaaten“ entstehenden Gefahren für Investments so weit wie möglich zu minimieren.

Gegen Ende der zweiten Amtszeit von G.W. Bush mehrten sich die Anzeichen, dass gegenüber den europäischen Verbündeten die kooperativen Züge der US-amerikanischen Militär- und Außenpolitik, die ja niemals gänzlich verschwunden waren, wieder stärker in den Vordergrund traten. Dafür waren mehrere Faktoren verantwortlich: Einerseits die Schwierigkeiten, mit denen die USA trotz der astronomischen Kosten im Irak zu kämpfen hatten und die zur langsamen Erosion der „Koalition der Willigen“ und auch in den USA selbst zu einer Diskussion über die Notwendigkeit eines Abzugs führten. Zweitens die Schwierigkeiten im Nahen Osten, und ganz allgemein die Sackgasse, in die der 2001 ausgerufene „Krieg gegen den Terror“ geraten war. Und natürlich drittens die deutlichen Anzeichen für eine Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Situation, die auch schon vor dem offenen Ausbruch der Krise Mitte 2008 zu einer angespannten Budgetsituation in den USA, aber auch in anderen imperialistischen Ländern geführt hatte.

Auch bei den europäischen Verbündeten waren deutliche Zeichen für die Bereitschaft zu vernehmen, die Konfrontation mit den USA wieder zugunsten einer intensiveren Kooperation zurückzunehmen. 2008 erklärte Frankreich, sich nach mehreren Jahrzehnten auch militärisch wieder voll in die NATO zu integrieren.

In dieser Situation wuchs auch bei den US-Eliten der Wunsch nach einem Strategiewechsel und zur Bereitschaft, im Gegenzug zu einer Neuverteilung der Kosten für die Aufrechterhaltung der imperialistischen Weltordnung auch andere Länder und insbesondere die Europäische Union stärker als bisher als gleichrangige Partner neben den USA zu akzeptieren. Die Basis für diese Neubewertung der imperialistischen Bündnispartner durch die USA wurde wie gesagt bereits unter Bush gelegt und war nicht das Ergebnis der Wahl Barack Obamas und des Wechsels im Weißen Haus, auch wenn dies nach außen hin gern so dargestellt wird. Die Folge war in jedem Fall eine erneute Reaktivierung der NATO durch die US-Administration.

Wiederbelebung der NATO …

Die Sicherheitskonferenz im Vorfeld des NATO-Gipfels vom April 2009 stand ganz im Sinne dieses vom US-Vizepräsidenten Joe Biden beschworenen „Neubeginns“ der transatlantischen Beziehungen und des „neuen Geistes der Zusammenarbeit und Kooperation“. Der CSU-Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber brachte diese Entwicklung auf den griffigen Satz: „Amerika setzt auf Deutschland und Europa. Die transatlantische Brücke wird stärker.“ Die USA haben erkannt, dass sie auf die militärische und die politische Kooperation mit den europäischen Partnern angewiesen sind, von deutscher und französischer Seite wurde dieses Angebot dankbar angenommen. Die Konsequenzen sind bereits spürbar: Frankreich und Deutschland können sich nun stärker im Rüstungsgeschäft mit dem Nahen Osten einbringen, bisher waren die Firmen dieser Länder bestenfalls als Subunternehmer geduldet. Insgesamt sind die USA gezwungen, die von ihnen dominierten Märkte und Gebiete stärker für EU-Multis zu öffnen.

Das hat aber auch seinen Preis: Obama hat bereits unmittelbar nach seiner Amtsübernahme allgemein ein stärkeres Engagement Europas im Kampf gegen den Terror eingemahnt, und Europa wird wohl einen größeren Beitrag und eine stärkere militärische Präsenz mit allen damit verbundenen Konsequenzen als Beitrag zur euroatlantischen Aussöhnung einzubringen haben. Schon im Dezember 2008 beschloss die NATO einhellig ein stärkeres Engagement im Irak, die EU-Mission „Eujust Lex“ wird ab Mitte 2009 im Irak tätig werden und damit die US-amerikanische Besatzung effektiv entlasten. Vor allem die Besetzung und Kontrolle Afghanistans ist heute ein wichtiges Ziel der imperialistischen Stabilisierungspolitik, für die Obama bereit ist, das US-Kontingent auf mehr als 50.000 Soldat/inn/en aufzustocken. Auch in diesem geostrategisch wichtigen Land wird Europa eine bedeutendere Rolle als in der Vergangenheit spielen, um seine militärischen Kompetenzen unter Beweis zu stellen. Dass Deutschland sein Kontingent um 600 Soldaten aufstocken wird, kann dabei nur ein erster Schritt sein. Die Weichen scheinen also auch auf europäischer Seite auf eine Stärkung der NATO gerichtet zu sein.

Die derzeit diskutierte und wahrscheinlich noch Ende 2009 verabschiedete neue NATO-Strategie setzt ganz auf diese Stärkung der NATO im Sinne einer aggressiven Neuausrichtung: Präventivschläge gegen Schurkenstaaten, „humanitäre Interventionen“ auch ohne Zustimmung des UNO-Sicherheitsrates, die Warnung an rohstoffreiche Staaten, ihren Reichtum nicht als „Waffe“ einzusetzen, lassen sicher die Herzen der Imperialist/inn/en höher schlagen.

… und die Gegentendenzen

Doch ganz so einfach scheint die Sache nicht zu sein. Denn auf mehreren Ebenen sind nach wie vor auch Fallstricke für diese Annäherungen verborgen und Gegentendenzen spürbar. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Ende März 2009 klar einen intensiveren Dialog mit Russland eingemahnt und vor einer zu raschen und zu weiten Ausdehnung der NATO gewarnt. Mit beidem hat sie sich in Gegensatz zu den Interessen der USA gesetzt, deren strategisches Ziel nach wie vor auf eine Isolierung Russlands gerichtet ist und das u.a. auch durch eine möglichst rasche Erweiterung der NATO auf für Russland sensible Regionen wie den Kaukasus und die Ukraine erreichen möchte. Weniger Schwierigkeiten dürfte es da schon mit dem Interesse geben, den Aufstieg von China und dessen Engagement in Afrika, Südamerika und Südostasien Grenzen zu setzen.

Ein zweites Element der Unwägbarkeiten ist zweifellos Afghanistan. 70.000 Besatzer sichern einen fragilen Frieden – weniger durch die Unterstützung der Marionette Karsai, der Machtbereich seiner Regierung reicht nicht weit über die Hauptstadt Kabul hinaus. Wichtiger sind da schon die Abkommen mit den lokalen Kriegsherren, den Warlords, mit deren Hilfe im Norden und Westen derzeit ein brüchiger Friede aufrecht erhalten wird. Die weitere Entwicklung in Afghanistan ist heute alles andere als eindeutig einzuschätzen. Klar ist allerdings, dass ein Scheitern der Intervention in Afghanistan (und darüber hinaus auch im pakistanischen Grenzgebiet) zu einer starken Belastung des neuen Kompromisses zwischen den USA und der von Frankreich und Deutschland geführten (Kern-) EU führen müsste, ganz abgesehen von innenpolitischen Konsequenzen, die mit ansteigenden Verlustzahlen verbunden wären. In Afghanistan wird sich zwar nicht das Schicksal der neuen NATO entscheiden, aber wenn die Kriegsmaschinerie ins Stocken geraten würde, müsste das eine erhebliche Belastung für die „transatlantische Brücke“, um mit Stoiber zu sprechen, bedeuten.

Die größten Belastungen könnten aber im Gefolge der Wirtschaftskrise entstehen. Von Obama wurde bereits am Beispiel der US-Konjunkturpakete vorexerziert, wo die künftigen Bruchlinien verlaufen könnten. Die Kritik der neuen US-Regierung lautet, dass zur Bewältigung der Wirtschaftskrise gemeinsame Anstrengungen notwendig seien, die EU aber zu wenig Initiative zeige und viel zu zaghafte Hilfspaketen schnüre, gleichzeitig aber von den massiven US-Programmen profitiere. Vor allem aber wird – wie in allen Wirtschaftskrisen zuvor – auch diese zu einem Mehr an protektionistischen Maßnahmen führen: Die Regulierungsabsichten für die Finanzmärkte, wie sie von der EU und von den USA diskutiert werden, sind auf die jeweils eigenen Interessen maßgeschneidert und Ausdruck einer zunehmenden protektionistischen Absicherung der eigenen Wirtschaften. Alles wird davon abhängen, wie tief und wie lang die Krise sein wird – klar scheint heute nur, dass mit zunehmender Dauer und Intensität der Krise protektionistische Maßnahmen stärker werden und dies auch über kurz oder lang auf die NATO wird durchschlagen müssen. Geopolitische Konflikte, eine neuerliche Verschlechterung der transatlantischen Beziehungen, diesmal allerdings verschärft  durch die Zwänge einer ökonomischen Krise, wären dann die unweigerliche Konsequenz. Heute ist es jedenfalls noch zu früh, um mit Sicherheit voraussagen zu können, welche der beiden Tendenzen, die der Annäherung oder die der neuerlichen Desintegration, die Oberhand behalten wird. Zur Zeit scheinen die dominanten Eliten sowohl in den USA als auch in der EU auf eine Vertiefung der Kooperation zu setzen, aber unter dem Druck einer lang andauernden schweren Rezession könnten sehr rasch dem entgegen gerichtete Strömungen in den Vordergrund treten.

Am 3. und 4. April 2009 wird am NATO-Sondergipfel jedenfalls der neue Geist der Kooperation beschworen, in pompösen Zeremonien werden die neuen Mitglieder Kroatien und Albanien in die „große Familie“ aufgenommen und die Jahrzehnte langen Kämpfe für Freiheit und Demokratie beschworen werden. Welch ein Zynismus! Die NATO war (und sie ist es heute umso mehr) ein weltweit agierender bewaffneter Arm des Imperialismus. Und sie hat ihre Aufgabe zu Zeiten der Blockkonfrontation genauso erfüllt, wie sie auch gewillt ist, heute im höheren Interesse der imperialistischen Weltordnung „Schurkenstaaten“ entgegenzutreten und den Kampf zu führen gegen die für die Welthandelsrouten bedrohliche Piraterie, den „Terrorismus“, die rohstoffreichen Ländern, die ihre Ressourcen als „Waffe“ einsetzen, oder die von der kapitalistischen „Globalisierung“ entwurzelten Armen, die aus Verzweiflung zu Aufständen greifen könnten…

Die NATO ist also 60 Jahre alt geworden. Und es wäre wohl zu schön, könnte auch ein Militärbündnis in die Pension geschickt werden. Doch freiwillig werden die Imperialist/inn/en nicht auf ihre Privilegien und ihre Macht verzichten. Wir sind aber zutiefst davon überzeugt, dass ein vom Klassenkampf losgelöster spezieller „Friedenskampf“ nicht der richtige Weg sein kann. So wie der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, sind politische Strukturen und ökonomische Interessen die Basis für die Entwicklung von Militärbündnissen. Der Kampf gegen die NATO, wie gegen jede andere Form imperialistischer Kriegspolitik und jedes andere imperialistische „Verteidigungs“-Bündnis, kann daher den Kampf gegen die kapitalistische Barbarei nicht ersetzen und wird seinen letztendlichen Erfolg erst mit der Niederlage von Kapitalismus und Imperialismus finden. Natürlich sind klassenkämpferische Aktionen gegen die Kriegspolitik des Imperialismus wichtige und notwendige Bestandteile jeder Bewegung gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Aber die Macht des Imperialismus wird in revolutionären Aktionen zerschlagen werden müssen. Dann wird auch die Todesstunde für imperialistische Militärbündnisse wie die NATO läuten. Für uns als Revolutionäre Sozialist/inn/en in imperialistischen Ländern hat gerade auch heute die grundlegende Parole von Karl Liebknecht nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt: Der Hauptfeind steht im eigenen Land!